Referendum NoFrontex - der Mut, Nein zu sagen

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Die Positionen von Sosf zur 15.Mai Abstimmung

 

Es ist in der schweizerischen und europäischen Migrationspolitik nichts Neues, dass Sicherheitsängste die Wahrung der Grundrechte überlagern. Die europäische Grenzschutzagentur Frontex ist ein Resultat davon. Seit Jahren wächst sie exponentiell, was Budget, Personal und Bewaffnung angeht. Durch den rassistischen Diskurs den die Agentur selber befeuert, führt dazu, dass Migrant:innen als Bedrohung betrachtet werden und ist Grundlage für die Rechtfertigung ihrer unwürdigen Behandlung, die ihnen widerfährt.
 


Auch in der Schweiz gab es mehr Aufmerksamkeit für die von Frontex tolerierten oder verübten Gewaltakte gegen Menschen. Das Migrant Solidarity Network hat das Referendum gegen die schweizer Finanzierung des Frontex-Ausbaus ergriffen, wodurch das Ganze noch stärker thematisiert wurde. Dieses Referendum ist eine Chance. Es ist sehr wichtig, dass wir jede Gelegenheit nutzen, um Stopp zu sagen, und die uns zur Verfügung stehenden demokratischen Mittel einsetzen, um uns gegen die Zerschlagung des Asylrechts und der persönlichen Freiheiten zu wehren.
 


Die Erpressung mit der Angst
Wie allzu oft in Debatten über die Rechte von Migranten werden die Argumente der Gegenseite aus dem sehr effektiven politischen Reservoir der Angst geschöpft. Wenn Sie Frontex in Frage stellen, wird man Ihnen mit dem Argument der Grenzsicherheit kommen. Dabei wird der größte Teil dessen, was dort wirklich passiert, außer Acht gelassen. Es sind heute die Menschen, die in die Europäische Union einreisen wollen, um Schutz zu erhalten, die wirklich gefährdet sind. 
Dieser Sicherheitsdiskurs hat zudem den Effekt, dass Menschen auf der Flucht als Bedrohung dargestellt werden, die die Misshandlungen rechtfertigt, denen sie an den Grenzen ausgesetzt werden. Diese Umkehrung der Gewalt ist nicht neu, sondern eine Rhetorik, die von den westlichen Rechtsextremen sorgfältig gepflegt wird und es ermöglicht, dass eine grundsätzlich misstrauische Haltung gegenüber Flüchtlingen sogar linke Diskurse infiziert.  
 

    
Ein Referendum für ein solidarischeres Europa
Das Referendum gegen die Finanzierung von Frontex wird als antieuropäisch dargestellt. Worüber die abstimmende Bevölkerung im Mai jedoch entscheiden wird, ist nicht der Austritt aus Frontex oder gar aus dem Schengen-Besitzstand, sondern eine Erhöhung des ohnehin schon massiven Budgets der EU-Agentur. Das Europäische Parlament hat im Oktober 2021 übrigens selbst beschlossen, einen Teil des Budgets der Agentur einzufrieren, nachdem es eine Untersuchung zu den Vorwürfen der Menschenrechtsverletzungen durchgeführt hatte.
Teil des Schengen-Raums zu sein, sollte im Übrigen nicht bedeuten, alles, was damit zusammenhängt, wortlos zu akzeptieren. Solidarité sans frontières stand den Schengen- und Dublin-Verordnungen stets äußerst kritisch gegenüber. Die Befürchtung war vor allem, dass die Sicherheitspolitik gravierend in das Asylrecht eingreifen würde. Bereits 2007 rief ein von Heiner Busch unterzeichneter Artikel im Bulletin das Schweizer Parlament dazu auf, wachsam gegenüber den von ihm angenommenen Verordnungen zu sein.

 

Mehr als 15 Jahre nach dem Beitritt der Schweiz zum Schengen-Dublin-Abkommen und damit der Unterstützung von Frontex stellen wir fest, dass sich unsere Befürchtungen bewahrheitet haben. Erhöhung der Sicherheitsmaßnahmen, Beschneidung des Asylrechts, exponentieller Ausbau der Mittel, die für die Überwachung und Kriminalisierung von Menschen auf der Flucht zur Verfügung stehen, sind heute Standard. 
 


Ein Sieg des Referendums würde vor allem einen größeren Spielraum für eine neue Entscheidung der Schweiz zu Frontex ermöglichen. Es geht vor allem darum, dem Parlament, das im Übrigen jeden humanitären Kompromiss bei diesem Projekt abgelehnt hat, zu sagen: "Zurück zum Absender, kommt mit einem Projekt zurück, das die Menschenrechte besser respektiert". Der Wille, um jeden Preis eine europäische Agentur zu finanzieren, die die Menschenrechte bedroht, anstatt nach Lösungen zu suchen, die die Menschenrechte wahren, zeugt bestenfalls von politischer Faulheit. Er zeugt aber vor allem von Verachtung gegenüber den Grundrechten von Menschen, die Asyl beantragen.



Eine Gelegenheit für die Linke, sich für  die Verteidigung der Grundrechte zu vereinen 
Das von einer Gruppe der Asylbewegung initiierte Referendum schien zum Scheitern verurteilt zu sein. Dies war auch der Hauptaspekt, unter dem die Medien über das Referendum berichteten. Die Mobilisierung war jedoch sehr stark und es wurden nicht weniger als 62.000 Unterschriften bei der Bundeskanzlei eingereicht.
Die politischen Regierungsparteien, Gewerkschaften und großen NGOs haben sich während der Unterschriftensammlung gelinde gesagt zurückgehalten. Wie wichtig andere Themen in ihrer Agenda sind, wie sensibel sie auf die Phantomdrohung eines Ausschlusses aus dem Schengen/Dublin-Abkommen reagieren, ist unklar. Was es offenbarte, ist, dass eine andere, breitere Mobilisierung möglich ist - und zwar vonseiten der Aktivisten·innen der Zivilgesellschaft und der Basisgruppen. Soziale Netzwerke, freiwillige Unterschriftensammler·innenteams (mit u. a. vielen Jugendabteilungen der grünen und sozialistischen Parteien) sowie eine umfassende Medienarbeit haben einen Sieg ermöglicht, mit dem niemand gerechnet hatte.

 

Das gibt ein neues Bild der Asylbewegung. Und es spiegelt auch die Tendenzen wider, die für ein NEIN zur Finanzierung von Frontex mobilisieren: von Gruppen, die die Abschaffung der Agentur erleben wollen, bis hin zu jenen, die eine Reform wünschen, und auch jenen, die einfach nur fordern, dass die Einhaltung der Menschenrechte stärker betont wird. Diese unterschiedlichen Stossrichtungen sind nicht neu. Die Asylbewegung in der Schweiz und in ganz Europa hat schon immer verschiedene Ansichten vereint, von den ehrgeizigsten bis hin zu den gemäßigtsten.

 

Solidarité sans frontières hat sich dort immer wohl gefühlt. Wir haben eine breite Basis und unsere Werte sind die Verteidigung der Menschenrechte, das Zusammenleben und der Antirassismus. Dazu gehört aber auch und besonders die Notwendigkeit, einen kritischen Diskurs über die Migrations- und Sicherheitspolitik zu entwickeln. Wir freuen uns auf einen Abstimmungskampf, der diese verschiedenen Tendenzen in seinem Inneren vereint. Die radikale Kritik an Frontex und dem System, das sie ermöglicht und nährt. sowie die Bereitschaft zur Diskussion auf institutioneller Ebene und die Reflexion über die Menschenrechte. Beides war immer Teil von Sosf. 

 

Aus diesem Grund sehen wir die kommenden Monate als eine Chance. Dank der Initiative und der harten Arbeit eines Teils der Asylbewegung haben wir die Möglichkeit, einen Raum für demokratische Überlegungen zu schaffen, in dem die verschiedenen Ansätze zur Opposition gegen die Verbrechen von Frontex - sei es ihre Abschaffung, ihre Reform oder ihre institutionelle Kritik - ihren Platz haben werden.

 

In diesem Sinne haben wir das Projekt der Infotour und der Sonderausgabe des Bulletins, die im März erscheinen wird, ins Leben gerufen. Wir wollen Debatten und Diskussionen darüber anregen, was Frontex bedeutet und wie wir uns dagegen wehren können, indem wir Experten und Persönlichkeiten einladen, die sich für ein "NEIN" bei der Volksabstimmung am 15. Mai einsetzen. Diese Veranstaltungen werden dazu dienen, die Asylbewegung, die in ihren Unterschieden vereint ist, zu veranschaulichen und zu mobilisieren.

 

Foto: Eric Roset

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