Quer durch Europa spannt sich ein immer umfassenderes und eng verknüpftes Datennetz zur Migrations- und Mobilitätskontrolle, auf das auch die Polizei- und Justizbehörden Zugriff haben – und die Schweiz ist mittendrin. In den letzten Jahren hat sie zahlreiche Gesetze übernommen, die bestehende Datenbanken ausbauen, neue entstehen lassen und diese allesamt miteinander verbinden. Unter dem sperrigen Titel «Interoperabilität» werden künftig Identitätsdaten und biometrische Merkmale aus dem Schengen Information System SIS, dem Visa Information System VIS und der Asyl-Datenbank Eurodac in einem zentralen Identitätsregister zusammengefasst. Über ein einheitliches Suchportal sollen die Behörden mit einem Klick in allen Systemen nach Namen, Fingerabdrücken, Gesichtsbildern und weiteren Informationen suchen können. Ein Detektor für Mehrfachidentitäten wird gleichzeitig automatisch prüfen, ob sich zum Beispiel ein für einen Visumsantrag erfasstes Gesichtsbild unter anderem Namen bereits in Eurodac oder im SIS befindet, oder ob eine mit einer Einreisesperre belegte Person mit einem anderen Pass erneut einen Visums- oder Asylantrag stellt.
Biometrische Erfassung für alle
Ab November 2024 sollte sich mit dem Einreise-/Ausreisesystem (Entry/Exit System EES) eigentlich eine weitere Datenbank zu diesem Trio gesellen. Das EES wird sämtliche grenzüberschreitenden Bewegungen von Drittstaatsangehörigen erfassen, die entweder visumsbefreit sind oder über ein 90 Tage gültiges Kurzzeitvisum verfügen. Da auch von ihnen die Fingerabdrücke und ein Gesichtsbild abgenommen werden, würden fortan sämtliche Drittstaatsangehörigen, die den Schengenraum betreten wollen, biometrisch erfasst. Die Einführung des EES wurde im Oktober jedoch erneut verschoben – zum insgesamt fünften Mal seit 2021. Damit steht auch der für 2025 geplante Start des Reise-Anmeldungssystems ETIAS in Frage, durch das visumsbefreite Drittstaatsangehörige (vergleichbar mit ESTA in den USA) vorab einem Sicherheitscheck unterzogen werden sollen. Zumindest gemäss aktueller Gesetzeslage ist es auf ein funktionierendes EES angewiesen.
Die Grenzen verschwimmen
An der grundlegenden Problematik der Interoperabilität ändert diese Verzögerung jedoch nichts. Schon durch den Ausbau der bestehenden Systeme nimmt das staatliche Wissen über Flucht- und Migrationsbewegungen enorm zu. Neue Möglichkeiten der statistischen Auswertung werden die Steuerung und Kontrolle von Migration grundlegend verändern. Da ihre Datenbestände zudem auch stets für die Strafverfolgungsbehörden zugänglich sind, gelangen diese an Informationen, die eigentlich nicht für Strafverfolgungszwecke erhoben wurden. Die damit einhergehenden grund- und datenschutzrechtlichen Probleme sind in der Schweiz bisher erst kaum öffentlich diskutiert worden.
Doch nur wenn wir uns der Konsequenzen der Interoperabilität und der neuen, digitalen Migrationskontrollen bewusst sind, können wir sie auch entsprechend kritisieren. In diesem Dossier gibt Sosf-Vorstandsmitglied Hanna Stoll Einblick in ihre Forschung zum Ausbau der Asyl-Datenbank Eurodac. Und wir informieren Sie über den aktuellen Stand des Einreise-/Ausreisesystems EES, das nicht zuletzt der Verfolgung von visa overstayers genannten Sans-Papiers dienen soll.
Dieser Artikel erschien zuerst im Sosf-Bulletin Nr. 4/2024.