Im Herbst 2021 war Europa in heller Aufregung, als der belarusische Diktator Lukaschenka tausende Geflüchtete ins Land lies und mit Bussen an die polnische und litauische Grenze verfrachtete. Die Menschen wurden benutzt, um die EU-Aussengrenze unter Druck zu setzen und eine Krise der EU heraufzubeschwören. Genau zwei Jahre später war es die italienische Mittelmeerinsel Lampedusa, die ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückte. Innerhalb weniger Tage kamen dort mehrere Tausend Menschen an und veranlassten Premierministerin Meloni abermals dazu, eine Migrationskrise auszurufen. Während Polen zum Missfallen der EU seine Grenzen schloss und sich sogar einem Frontex-Einsatz widersetzte, wurden die meisten Geflüchteten von Lampedusa aus auf Fähren ans Festland gebracht.
Beide Ereignisse sind in der umstrittenen neuen Krisen-Verordnung aufgegriffen worden. Diese schafft eine rechtliche Grundlage für drei Situationen, in denen die Mitgliedstaaten von den Bestimmungen der Asylverfahrensverordnung (AVV) sowie der Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung (AMMV) abweichen können: unvorhergesehene «Massenankünfte» wie im Beispiel Italiens, Situationen höherer Gewalt wie während der COVID-19-Pandemie sowie Fälle von Instrumentalisierung, wie sie Polen und Litauen erlebt haben. Ist ein Mitgliedstaat mit einer solchen Situation konfrontiert, kann er die Ausrufung einer Krise beantragen, über die der Rat der EU dann auf Vorschlag der Kommission entscheidet.
Mehr Grenzverfahren, weniger Dublin-Transfers
Die Auswirkungen auf die genannten Verordnungen sind drastisch. Bei «Massenankünften» oder höherer Gewalt werden die in der AVV geregelten, verkürzten Grenzverfahren für alle Geflüchteten verpflichtend, deren Herkunftsstaaten eine durchschnittliche Schutzquote von bis zu 50% haben (statt ansonsten bis 20%). Gleichzeitig dürfen die Grenzverfahren 18 statt ansonsten nur 12 Wochen dauern. Im Falle einer Instrumentalisierung können die Mitgliedstaaten sogar alle Gesuche der «Instrumentalisierten» im Rahmen von Grenzverfahren prüfen, unabhängig von ihrer Herkunft. Der Zugang zu regulären Asylverfahren wird also weiter eingeschränkt, die Zahl der in Lagern Festgehaltenen wird stark ausgeweitet.
Auch die Bestimmungen der AMMV bezüglich Dublin-Überstellungen werden im Krisenfall aufgeweicht. Einerseits bekommen die von Krisen betroffenen Länder mehr Zeit, um Übernahmegesuche zu beantworten, andererseits wird die Überstellungsfrist, innerhalb derer ein abgebender Staat eine Ausschaffung durchführen muss, von sechs Monaten auf ein Jahr verlängert. Gelingt dies nicht, wird die Zuständigkeit auf den überstellenden Staat übertragen. Im Falle von «ausserordentlichen Massenankünften», die die Funktionsfähigkeit des Asylsystem eines Mitgliedstaats ernsthaft in Frage stellen, wird dieser Staat sogar ganz von seiner Zuständigkeit entbunden.
Krisenmodus als neue Norm?
Aus diesem Grund war die Krisen-Verordnung während der Verhandlungen der GEAS-Reform stark umstritten. Sie wurde vor allem von den Erstankunftsländern eingefordert. Länder wie Italien, Kroatien und Polen haben der GEAS-Reform wohl nur zugestimmt, weil sie davon ausgehen, dass der Krisenmodus zur neuen Norm wird. Die Schweiz, die sehr von den Änderungen der AMMV-Bestimmungen betroffen wäre, sollte sich also nicht zu sicher sein, dass sie dank Dublin-Überstellungen weiterhin von der Teilnahme am GEAS profitieren wird.
In Kürze: Krisen-Verordnung
Die Verordnung sieht Ausnahmeregelungen für drei Krisensituationen vor: «Massenankünfte», höhere Gewalt sowie Fälle von «Instrumentalisierung». Im Krisenfall werden noch mehr Geflüchtete in Grenzverfahren geschickt und Dublin-Überstellungen verzögert oder ausgesetzt. Die Schweiz wäre vor allem von Letzterem betroffen.
Dieser Text erschien zuerst im Sosf-Bulletin Nr. 2/2024.