Vom «EU-Türkei-Deal» zum neuen Grenzverfahren: 8 Jahre Gewalt und Ausgrenzung in der Ägäis

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CCAC Samos (© Nik Oiko, 2021)

Im März 2016 veröffentlichten die EU und die Türkei eine gemeinsame Erklärung, die wegen ihrer völligen Missachtung der internationalen Flüchtlingsrechte scharf kritisiert wurde. Obwohl der sogenannte «EU-Türkei-Deal» selbst nur eine unverbindliche Pressemitteilung war, stellte er die Weichen für drakonische und gewalttätige Grenzpolitiken, die acht Jahre später nicht nur in Griechenland, sondern in ganz Europa zur Normalität werden.


Zur Erinnerung: Im Mittelpunkt des «EU-Türkei-Deals» von 2016 stand die Vereinbarung, dass die Türkei die zwangsweise Rückführung aller Migrant:innen akzeptiert, die aus der Türkei kommend die griechischen Inseln erreicht haben. Dieser Plan basierte auf der irrigen Annahme, dass die Türkei ein sicheres Land für Geflüchtete ist. Um dieses Ziel zu erreichen, erliess Griechenland ein neues Asylgesetz und setzte mit Unterstützung der EU eine Reihe von fragwürdigen Regelungen um, die bis heute in Kraft sind.


Räumliche Eingrenzungen und Hotspot-Lager
Die erste Auswirkung, die Griechenland nach dem «EU-Türkei-Deal» zu spüren bekam, war die Verhängung räumlicher Eingrenzungen für Geflüchtete, die auf dem Seeweg aus der Türkei auf den griechischen Ägäis-Inseln ankamen. Über Nacht sassen sie auf den Inseln in sogenannten «Hotspots» fest und konnten weder ihre Reise fortsetzen noch sich innerhalb Griechenlands frei bewegen.


Geflüchtete wurden fortan gezwungen, so lange in den Hotspots zu bleiben, bis ihre Asylanträge bearbeitet sind. Die Gewalt, die Überbelegung, der unzureichende Zugang zu lebensnotwendigen Gütern und die unmenschlichen Bedingungen, denen sie in den Lagern ausgesetzt sind, wurden in den letzten acht Jahren systematisch dokumentiert und angeprangert. Dennoch wurden seit 2016 kontinuierlich räumliche Eingrenzungen verhängt, was einen eklatanten Verstoss gegen die Flüchtlingsrechte darstellt.

 

In der Zwischenzeit wurden die Hotspots in «Closed Controlled Access Centers» umgewandelt. Unabhängig vom Namen ist die Wirkung dieselbe: Erwachsene ebenso wie Kinder, die ohne Genehmigung nach Griechenland einreisen, werden in überwachten Lagern isoliert, basierend ausschliesslich auf ihrem rechtlichen Status und ihrer Nationalität. Diese modernen Internierungslager setzen Menschen auf der Flucht kontinuierlich einer erniedrigenden und unmenschlichen Behandlung aus und werden mit der finanziellen und politischen Unterstützung der EU aufrechterhalten.


Ausschluss aus Asylverfahren
Die zweite grosse Auswirkung, die Griechenland nach dem «EU-Türkei-Deal» zu spüren bekam, war der zunehmende Ausschluss von Menschen aus den Asylverfahren. Nach EU-Recht kann Asylsuchenden der Zugang zum Asylsystem verwehrt werden, wenn sie einen engen Bezug zu einem «sicheren Drittstaat» haben, den sie auf ihrem Weg nach Europa durchquert haben. In den letzten acht Jahren hat Griechenland immer mehr Menschen mit der Begründung abgewiesen, die Türkei sei ein solcher «sicherer Drittstaat».


Von 2016 bis 2019 betraf dies zunächst nur syrische Staatsangehörige, die nicht als vulnerabel eingestuft wurden. Zwischen 2020 und Juni 2021, nach der Verabschiedung eines neuen Asylgesetzes, wurde dieser Ausschluss auf praktisch alle syrischen Staatsangehörigen ausgedehnt, die auf den griechischen Inseln ankamen. Im Juni 2021 erklärte das Ministerium für Migration und Asyl die Türkei auch für Staatsangehörige aus Afghanistan, Somalia, Pakistan und Bangladesch zu einem sicheren Land und ein Ministerbeschluss vom Juni 2021 weitete diese Ausschlusspolitik auch auf alle Asylsuchenden auf dem griechischen Festland aus. Dieser Ausschluss wurde selbst nach dem Stopp der Abschiebungen in die Türkei im März 2020 fortgesetzt.


Türkei kein sicherer Drittstaat
Die Türkei kann weder faktisch noch rechtlich als «sicherer Drittstaat» im Sinne des europäischen Rechts angesehen werden. Von den rechtlichen Rahmenbedingungen, die den Zugang zum Asylrecht einschränken, über die unzureichenden Aufnahmebedingungen, die unmenschliche Behandlung während der Haft bis hin zur systematischen Verletzung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung – die Türkei erfüllt keineswegs die Voraussetzungen, um als sicherer Drittstaat zu gelten.


Im Laufe des letzten Jahres haben sich die Bedingungen für Geflüchtete in der Türkei weiter verschlechtert. Nach dem verheerenden Erdbeben haben die internen Reisebeschränkungen für Ausländer:innen die vom Erdbeben betroffenen Migrant:innen zu Obdachlosigkeit und Armut verurteilt. Nach den Parlamentswahlen im Mai 2023 hat sich zudem die Stimmung gegen Geflüchtete weiter verschärft. Migrant:innen wurden verhaftet, verschwanden und wurden getötet. Ein im Februar 2024 veröffentlichter Bericht der türkischen Ärztekammer dokumentierte die grauenvollen Haftbedingungen in überfüllten Lagern. Dazu gehören Kontaktverbote zu Familienangehörigen und Anwält:innen, fehlender Zugang zu Trinkwasser und essbaren Lebensmitteln, Missachtung der besonderen Bedürfnisse von Inhaftierten, Leibesvisitationen, Folter und verdächtige Todesfälle. Rückschiebungen von Migrant:innen aus der Türkei nach Syrien und in den Iran sind ebenfalls gut dokumentiert. Wie in Griechenland leugnet die türkische Regierung diese ungeheuerlichen Verstösse offiziell.


Tödliche Pushbacks
Das Ziel, mehr Migrant:innen von der EU fernzuhalten, wurde seit März 2020 insbesondere in der Ägäis nicht nur mit «legalen» Mitteln erreicht, sondern auch durch illegale staatliche Pushbacks. Zwischen 2020 und 2022 wurden in der Ägäis nachweislich zehntausende Menschen vom griechischen Staat bei Pushbacks angegriffen, gefangen genommen oder auf See zurückgelassen, teils mit tödlichem Ausgang. Die Zahl der Toten und Vermissten an den griechischen Grenzen ist in den letzten vier Jahren alarmierend angestiegen. 2023 verloren auf der östlichen Mittelmeerroute mindestens 799 Menschen ihr Leben – die höchste Zahl seit 2015, als mehr als zwanzig Mal so viele Menschen über die griechisch-türkische Grenze nach Europa kamen.

 

Legalisierung und Ausweitung der EU-Türkei-Erklärung
Im April 2024 einigten sich die Europäische Kommission, das Europäische Parlament und die EU-Mitgliedstaaten auf eine Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, die die missbräuchliche und schädliche Politik des «EU-Türkei-Deals» legalisieren und auf alle EU-Aussengrenzen ausweiten wird. Die GEAS-Reform übernimmt nicht nur die Einschränkung der Bewegungsfreiheit von Migrant:innen und ihre Inhaftierung in Lagern, sondern automatisiert durch Screening und Zwangsabschiebungen auch ihren Ausschluss aus den Asylverfahren – ohne individuelle Prüfung. Diese Massnahmen verstossen eindeutig gegen die Menschenrechte von Geflüchteten und werden den Weg für eine Legalisierung von Pushbacks ebnen.

 

Unterzeichnende Organisationen: 

Community Peacemakers Teams (CPT) 

Equal Legal Aid 

European Association of Lawyers for Democracy & World Human Rights (ELDH) 

Human Rights Legal Project 

I Have Rights 

Lawyer Association of Freedom (ÖHD) 

Legal Centre Lesvos 

Progressive Lawyers Association (CHD) 

Refugee Legal Support 

 

In Kürze: Asylverfahrensverordnung
Die Verordnung führt Asyl-Schnellverfahren an den Aussengrenzen ein, sogenannte «Grenzverfahren», in denen wenig aussichtsreiche Asylgesuche möglichst schnell abgewiesen werden sollen. Sie finden wie in Griechenland in geschlossenen Lagern unter Haft-Bedingungen statt. Es gilt die «Fiktion der Nicht-Einreise», die Geflüchtete weiter entrechtet. Betroffen sind Schutzsuchende aus Ländern mit einer Schutzquote von 20% oder weniger. Diese Quote kann in «Krisen-Fällen» jedoch auf bis zu 100% steigen.

 

Dieser Text erschien zuerst im Sosf-Bulletin Nr. 2/2024. 

 

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