Dieses Dossier beleuchtet den Aufstieg der Agentur und die Beteiligung der Schweiz bei der Politik der Migrationsabwehr – es beinhaltet unter anderem folgende Punkte:
- Die Einsatzgebiete von Frontex: die Agentur ist nicht nur verantwortlich für die Einsätze an den EU-Aussengrenzen und Ausschaffungen, sondern auch für Externalisierung der EU-Migrationspolitik und rassistische Risikoanalysen.
- Frontex und die Schweiz 1: die Schweiz bezahlt ungefähr 5% vom Frontex-Budget. Es ist die Europäische Abschottungspolitik in a nutshell: Binnenländer wie die Schweiz kaufen sich ein in ein System voll Militarisierung und Gewalt.
- Frontex und die Schweiz 2: Für 2021 sind 53 Einsätze mit insgesamt 1902 Einsatztagen geplant. Die geplanten Einsatzgebiete sind Griechenland, Bulgarien, Kroatien, Italien und Spanien.
- Menschenrechte als Nebenschauplatz: auch wenn die Agentur mittels intensiver PR-Arbeit grundrechtskonform erscheinen will, liegt der Fokus auf Grenzschutz und Migrationsabwehr auf Kosten von ebendiesen Grundrechten.
Was ist Frontex?
Frontex heisst ausgeschrieben Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache. Sie ist die Grenzschutzagentur der Europäischen Union und ein wichtiger Akteur bei der Durchsetzung des EU-Grenzregimes. Was als kleine Agentur in Polen begann, hat sich zu einer der größten Agenturen in der EU entwickelt. Frontex wurde 2005 gegründet, mit einem Jahresbudget von 6 Millionen Euro. Seither ist das Budget um über 7 000 % angestiegen. Für den Zeitraum 2021-2027 sind 11 Milliarden Euro für die Agentur vorgesehen – mit einem voraussichtlichen Jahresbudget von 5.6 Milliarden Franken im Jahr 2027.
Seit ihrer Gründung hat Frontex Schritt für Schritt eine Armee von Grenzschutzbeamten rekrutiert, die Handfeuerwaffen besitzen - und auch benutzen dürfen. Die Einsatzgruppe von Frontex besteht aus Angehörigen nationaler Grenzschutzeinheiten wie zum Beispiel jener der Schweiz. Diese gehen jeweils für mehrere Monate an die EU-Aussengrenze in den Frontex-Einsatz. Diese Zusammensetzung soll sich jedoch ändern: bis 2027 will Frontex eine eigene Einsatztruppe aus 10 000 Grenzschutzbeamt*innen aufgebaut haben. Das sogenannte stehende Heer (standing corps) soll einst aus 3000 direkt von Frontex angestellten Beamt*innen bestehen, die „von 7000 Beamten von EU-Mitgliedstaaten (inkl. Schweiz) sekundiert“ werden, so der Frontex-Sprech. Darüber hinaus kann die Agentur bereits heute ihre eigene Ausrüstung kaufen – von Schiffen über Helikopter, Zeppelinen, Drohnen oder Einsatzfahrzeugen aller Art. Dafür arbeitet sie intensiv und äusserst intransparent mit Waffen-, Sicherheits- und Überwachungsunternehmen zusammen, wie das Rechercheprojekt „Frontex Files“ detailliert aufzeigte. Die Rüstungsindustrie hat milliardenschwere Interessen am Ausbau des EU-Migrationsregimes und der Aufrüstung und Militarisierung von Grenzregionen in aller Welt. Dementsprechend lobbyieren die Firmen aus dieser für eine Verschärfung und Militarisierung des EU-Grenzregimes. Wie die Frontex-Files beschrieben, bleiben Politik und Wirtschaft für Diskussionen und Aushandlungen dabei lieber unter sich: „An den Treffen [zwischen Frontex und Rüstungsindustrie, die Red.] haben 138 Vertreter*innen privater Einrichtungen teilgenommen: 108 Vertreter*innen von Unternehmen, 10 Think Tanks, 15 Universitäten, eine Nichtregierungsorganisation. Keine einzige Menschenrechtsorganisation war bei diesen Treffen dabei.“
Frontex, die Waffenlobby und eine europaweit getragene anti-Migrationspolitik: sie gehen Hand und Hand.
Die Einsatzgebiete der Grenzschutzagentur
Wer Frontex in den Sozialen Medien folgt, trifft täglich auf Bilder von Frontex-Aktivitäten an den EU-Aussengrenzen. Beamt*innen lachen in die Kamera, die Agentur wirbt sogar für Diversität im Einsatz. Die Bilder sind irreführend, weil sie die Gewalt verschweigen, die dieses Regime für migrierende Menschen bedeutet. Aber auch, weil sie nur einen kleinen Teil der laufend zunehmenden Aktivitäten und Einsatzgebiete der Agentur aufzeigen. Neben den Einsätzen an der EU-Aussengrenze, ist Frontex auch mitverantwortlich für die Auslagerung des EU-Migrationsregimes in Drittstaaten, aber auch für Ausschaffungen. Und durch das verbreiten ihrer Risikoanalysen ist sie wichtige Treiberin des rassistischen Narrativs, das Migration als militärische Bedrohung beschreibt. Der Aufstieg von Frontex macht im Hauptquartier in Warschau bemerkbar. Dort hat die Agentur scheinbar Platzprobleme und plant einen gigantischen Neubau für seine Aktivitäten. Kostenpunkt: 140 Millionen Euro.
Grenzschutz und Ausschaffungen
Frontex führt Grenzkontrolloperationen im gesamten Mittelmeerraum und in den Balkanländern durch. Grenzschutzbeamt*innen und von Frontex eingesetzte Mitarbeiter*innen waren zahlreichen Enthüllungen zufolge wiederholt direkt und indirekt in illegale Pushbacks verwickelt. Basierend auf Schilderungen von Betroffenen und Recherchen von aktivistischen Netzwerken entstanden in den vergangenen Monaten zahlreiche Berichte über die Rolle von Frontex und deren Beteiligung an der Gewalt gegen Migrant*innen. Als Folge wurden unterschiedliche Untersuchungen gegen die Umtriebe der Agentur eröffnet – bisher jedoch mit zaghaften Resultaten. Zudem rüstet Frontex lokale Grenzschutzbehörden aus und auf und stattet sie mit wichtigem Know-how aus. Insbesondere rund um Überwachung und auf strategischer Ebene. Damit interveniert sie nicht nur in problematischer Weise in konfliktreiche Grenzregionen und heizt lokale Konflikte wieder auf, sondern stattet die lokalen Behörden zusätzlich mit wichtigen Instrumenten im System der Migrationsabwehr aus – neben personellen Ressourcen, unter anderem mit Überwachungstechnik, migrationsbezogenen Datenbanken und Einsatzfahrzeugen aller Art.
Doch Frontex ist nicht nur an den EU-Aussengrenzen tätig, sondern auch in den Städten seiner Mitgliedstaaten: Sie hilft bei der Planung und Durchführung von Ausschaffungen in der gesamten EU. Während dem Ausschaffungen grundlegend Akte der Gewalt sind, gibt es zudem eine Vielzahl an Berichten von Gewalt bei Ausschaffungsflügen von Frontex. Die Agentur fungiert als "Rückführungsagentur" der EU, koordiniert gemeinsame Ausschaffungsflüge aus EU-Ländern, hilft bei der sogenannten "freiwilligen" Rückkehr und übt Druck auf Nicht-EU-Länder aus, abgeschobene Flüchtlinge wieder aufzunehmen. Kürzlich sorgte einer dieser Flüge auch in der Schweiz für Aufsehen: ein Ausschaffungsflug ins Bürgerkriegsland Äthiopien. Trotz kurzfristig organisiertem Widerstand der äthiopischen Gemeinschaft und migrationspolitischen Netzwerken hob die Maschine letztendlich ab.
Externalisierung und Risikoanalysen
Doch Frontex wirkt nicht nur mit Ausschaffungen über die EU hinaus. Die Agentur ist wichtige Schnittstelle für die Zusammenarbeit mit Drittländern im Rahmen der Bemühungen der EU, ihre Grenzkontrollen immer weiter auszulagern (eine Politik die auch als Externalisierung des EU-Grenz und Migrationsregimes bezeichnet wird). Frontex arbeitet aktiv mit mehr als 20 Ländern ausserhalb der EU zusammen und entsendet Beamte in etliche dieser Länder, darunter in den Niger, nach Senegal und in die die Balkanstaaten. Alleine im Jahr 2016 hat sie 686 Beamt*innen aus Armenien, Aserbaidschan, Weissrussland, Georgien, Moldawien und der Ukraine geschult - Unterricht im Geschäftsmodell Grenzgewalt. Sie kooperiert zudem mit der sogenannten libyschen Küstenwache, die migrantische Boote abfängt und gewaltsam zurück nach Libyen schleppt, wo Migrant*innen unter "konzentrationslagerähnlichen Bedingungen" festgehalten werden. Und jene, die den dort Gestrandeten helfen, sind nicht etwa die internationalen „Hilfsorganisationen“ wie das UNHCR oder die Internationale Organisation für Migration (IOM), sondern lokale Gemeinschaften. Das zeigte sich auch Mitte Oktober 2021, als mehrere tausend Personen in Tripolis vor den Toren des UNHCR vergeblich für ihre Rechte protestierten. Während dem EU-Länder wie Italien die Milizen in Libyen mit Booten ausrüstet, führt Frontex beispielsweise im Rahmen der Operation Sophia Schulungen für sie durch, oder kommuniziert sogar direkt via Whats App mit ihnen, wie Berichte beweisen. Genau das hat Frontex Direktor Fabrice Leggeri vor ein paar Monaten gegenüber dem Parlament noch bestritten. Eine Lüge, wie sich nun herausstellt. Frontex ist zudem federführend bei der Ausweitung der Luftüberwachung im Mittelmeerraum, während dem gleichzeitig die offiziellen Rettungsmissionen immer weiter reduziert werden: damit schafft sie einen tödlichen Korridor, wo in Seenot geratene Boote immer öfter zwar entdeckt, aber nicht gerettet werden. Hunderte Menschen sind alleine in diesem Jahr bei der Überfahrt gestorben – oft im wahrsten Sinne des Wortes vor den Augen von Küstenwachen und Öffentlichkeit.
Doch die Arbeit von Frontex geht noch viel weiter. Ihr Direktor Fabrice Leggeri nimmt sich auch auf Ebene von geheimdienstlichen Tätigkeiten den Raum, der ihm gewährt wird. Anfang 2017 besuchte dieser den Niger, „um über die Zusammenarbeit bei der Grenzsicherung und die Entsendung des ersten und bisher einzigen Frontex-Verbindungsbeamten in Afrika zu sprechen. Im Bereich der Nachrichtendienste arbeitet Frontex mit Niger und anderen afrikanischen Ländern im Rahmen der Africa-Frontex Intelligence Community (AFIC) zusammen, einer Plattform für den Informationsaustausch, die Treffen, Workshops und Exkursionen organisiert und einen Jahresbericht veröffentlicht. Bei einem Treffen der AFIC im September 2017 startete Frontex ein von der Europäischen Kommission finanziertes Projekt zum Ausbau der Kapazitäten afrikanischer Länder für die gemeinsame nachrichtendienstliche Analyse von Netzwerken, die Menschenschmuggel und Menschenhandel betreiben.“ Frontex ist wichtige Treiberin der Externalisierungspolitik und ist dadurch mitverantwortlich, dass Akteure wie die sogenannt libysche Küstenwache oder die am Genozid von Darfur beteiligte Janjaweed-Miliz (als Teil der Rapid Support Forces) plötzlich in der Partnerschaft der EU stehen.
In Bezug auf Externalisierung, spielen auch die Balkanländer eine wichtige Rolle. Seit das Mandat von Frontex 2019 erweitert wurde, um deren Kompetenzen für Aktivitäten in Drittländern zu erhöhen, ist die Agentur zunehmend in den Balkanstaaten präsent. Im Mai 2019 startete Frontex ihre erste derartige Operation in Albanien, gefolgt von zwei Operationen in Montenegro im Jahr 2020. Ein Statusabkommen das solche Operationen ermöglicht, wurde im Herbst 2021 von Serbien ratifiziert. 87 Frontex-Beamt*innen sollen in Serbien zum Einsatz kommen. Während Frontex von Bemühungen gegen die „organisierte Kriminalität“ spricht, zeigt ein Blick auf den Einsatzort den eigentlichen Fokus der geplanten Mission. Diese soll nämlich an der „Grenze zwischen Serbien und Bulgarien stattfinden, wo die Zahl der illegalen Grenzübertritte in den letzten Jahren zugenommen hat“, schreibt Frontex in einer Pressemitteilung. Das lokale Koordinationszentrum der Operation ist der Grenzübergang Gradina, der in der Vergangenheit Ausgangspunkt von Pushbacks war.
Ein weiterer Pfeiler der Frontex-Aktivitäten ist das Verfassen von Risikoanalysen. Mit diesen analysiert sie die vermeintlichen Risiken, die Europa durch Migration drohen. Die Agentur fördert damit das rassistische Narrativ von Migration als Bedrohung. Durch die Analysen, rechtfertigt Frontex auch ihren eigenen Ausbau, da diese in der Forderung nach mehr Grenzschutz münden. Wie ein Blick auf die letzten Jahre zeigt, wirken diese Berichte im Sinne der Agentur, die stetig wichtiger, einflussreicher, grösser und reicher wurde.
Menschenrechte als Nebenschauplatz
Und welche Stellenwert haben bei all dem Menschenleben oder die stets so hochgehaltenen Menschenrechte? Kaum eine: Der Fokus liegt auf der Grenzsicherung und der Migrationsabwehr. Menschenrechte spielen, wenn überhaupt, eine untergeordnete Rolle – im Jahr 2020 waren für das Fundamental Rights Office lediglich circa 0,2 Prozent des Budgets vorgesehen. Die Agentur wurde von Beginn weg so gestaltet, dass sie kaum kontrolliert werden kann. Kontrollmechanismen gibt es praktisch nur intern und wie die Untersuchung des parlamentarischen Ausschusses der EU aufzeigte, sind auch die wenigen externen Kontrollmechanismen vorwiegend Augenwischerei. Obwohl die Berichte von Betroffenen, Aktivist*innen und kritischen Journalist*innen im vergangenen Jahr diverse Skandale ans Tageslicht brachten, ist Direktor Leggeri nach wie vor im Amt. Das überrascht nicht, denn die Auswirkungen dieser von Frontex vorangetriebenen Politik sind seit jeher bekannt: „Die Kommission weiß: Die verstärkte Grenzüberwachung in den nordafrikanischen Staaten wird dazu führen, dass die Boote mit den "illegalen Einwanderern" von noch entfernteren Punkten in See stechen und deshalb noch mehr Menschen bei der Überfahrt ihr Leben lassen. Ihre Schlussfolgerung lautet, dann "sofern notwendig" auch weiter südlich gelegene Staaten bei der Überwachung ihrer Grenzen zu unterstützen.“. So analysierte Heiner Busch die Auswirkungen dieser Politik im Cilip-Magazin 2008. Heute steht Frontex symbolisch für diese Politik der Auslagerung. Die Bilanz davon ist erschütternd: sie kostete seit 1993 über 40.555 Menschenleben. Sie ertranken im Mittelmeer, wurden an den Grenzen erschossen, starben durch Selbstmord in Internierungslagern, wurden gefoltert und getötet, nachdem sie abgeschoben worden waren. Und das sind nur jene, die erfasst worden sind. Die Dunkelziffer ist weitaus höher.
Und die Schweiz? Die trägt die EU-Abschottungspolitik inklusive Frontex als zentrale Akteurin willig mit und versteckt sich hinter ihrem Status als Binnenland. Migrationsabwehr ist auch in ihrem Sinne: als Heimathafen für Rohstofffirmen, internationaler Bankenplatz und Waffenfabrik ist sie wichtige Profiteurin der kapitalistischen Gegenwart. Und Mitverursacherin einer Vielzahl von Fluchtursachen.
Frontex und die Schweiz
Die Schweiz ist finanziell wie personell an Frontex beteiligt. Ein Geflecht an Aktualisierungen und Erweiterungen regeln die Beziehung und Beteiligung. Die Schweiz trug den Ausbau von Frontex stets mit, auch als 2015 der Europäische Rat und das Europäische Parlament aus der «Agentur für die Zusammenarbeit an den Aussengrenzen» die «Agentur für die Grenz- und Küstenwache» machten und damit deren Aufstieg zementierten. Die Schweiz ist durch das sogenannte Schengener Abkommen seit 2009 Mitglied von Frontex. Sie stellt neben finanzieller Unterstützung eine steigende Anzahl Grenzwächter*innen zur Verfügung – bis 2027 sollen sich über 60 Schweizer Grenzschützer*innen im Dienste der Agentur befinden. Für die Übernahme der neuen gesetzlichen Grundlagen, die den Ausbau der Agentur regelten, setzte sich in den vergangenen Jahren besonders SP-Bundesrätin Simmonetta Sommaruga ein. Während dem einzelne Mitglieder*innen der Partei sich zwar davon distanzierten, trug die Mehrheit der Schweizer Sozialdemokrat*innen diese Politik mit. In jüngster Vergangenheit gab es zwar (wohl aufgrund der Berichterstattung der vergangenen Monate) vermehrt kritische Stimmen aus dem realpolitischen Spektrum. Das wird an der grundlegenden Voraussetzung jedoch wenig ändern: die offizielle Schweiz steht hinter Frontex (was nicht zuletzt auch die Entstehung des derzeitigen Referendums zeigt, das von ausserparlamentarischen Gruppen initiiert wurde). Und das, ohne deren Entwicklung entscheidend mitbestimmen zu können. Die Schweiz kann zwar mitreden, hat aber kein Stimmrecht bei der Planung neuer Kompetenzen und Gesetze. So schreibt die Eidgenössische Zollverwaltung (EZV) auf Anfrage zur Ausarbeitung der Erweiterungen: „Die Erweiterung des Frontex-Mandats bedurfte einer Anpassung der EU-Verordnung zu Frontex. Diese wurde im Rahmen des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens verabschiedet, bei dem das Europäische Parlament und der Rat dasselbe Mitspracherecht hatten. Die Schweiz ist an den Beratungen des Rates beteiligt; da die EU-Verordnung Teil des Schengen-Acquis ist, ist die Anpassung der EU-Verordnung resp. die Erweiterung des Frontex-Mandats eine Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstandes. Die Schweiz hat als an Schengen assoziierter Staat bei Weiterentwicklungen des Schengen-Besitzstandes ein Mitspracherecht, jedoch kein Stimmrecht.“ Das Schweizer Parlament kann also zustimmen oder ablehnen, aber nicht mitbestimmen. Bisher nahm es alle Vorschläge an.
Das institutionelle Bindeglied zwischen der Schweiz und Frontex ist die EZV. So ist denn auch einer der Vertreter der Schweiz im Frontex-Verwaltungsrat EZV-Vizedirektor Marco Benz. Als zweite Vertreterin fungiert Medea Meier, Historikerin und Sozialanthropologin. Eine Übersicht über deren Abstimmungsverhalten im Verwaltungsrat wollte die EZV auf Anfrage nicht mitschicken. Der Frontex-Verwaltungsrat stand in den vergangenen Monaten aufgrund der Berichterstattungen über Direktor Leggeri selber immer wieder scharf in der Kritik, was für die EZV jedoch kein Grund für erhöhte Transparenz ist. Darüber hinaus hat die Schweiz in Warschau eine sogenannte Verbindungsperson im Dienste der Grenzschutzagentur. Die Schweiz entsendet ausserdem seit diesem Jahr zwei Expert*innen im Bereich Grundrechtschutz in den Dienst der Agentur und Personal aus der Schweiz nimmt auf verschiedenen Ebenen regelmässig an Sitzungen von Frontex teil. Schliesslich nehmen Schweizer Beamt*innen an den Grenzschutzmissionen sowie bei Ausschaffungen teil, wie die EZV auf Anfrage bestätigt. Dazu hat sich die Schweiz mit der Übernahme der Verordnung verpflichtet. Die Entwicklung der Grenzschutzagentur scheint die EZV zu inspirieren. Denn diese versucht unter Führung von Oberzolldirektor Christian Bock und SVP-Bundesrat Ueli Maurer, ähnlich wie Frontex in den letzten 15 Jahren, ihre eigenen Kompetenzen massiv auszubauen.
Im Einsatz an den Aussengrenzen
Im Sommer 2021 veröffentlichte die türkische Botschaft Videomaterial, das über 300 Pushbacks, ausgeführt von der griechischen Küstenwache, festhielt. Auf die Anfrage ob sie davon Kenntniss habe, schrieb die EZV klar, dass sie das Videomatieral zu den gewaltsamen griechischen Pushbacks gesichtet habe . Trotzdem entsendet sie weiterhin Grenzschutzbeamt*innen in die Region, deren operationelle Hauptpartner die griechischen Grenzschutzbehörden sind. Die Schweizer Grenzschützer*innen nahmen unter anderem an der Mission «RBI Evros 2020» teil, die für den Grenzschutz an der Landgrenze zwischen Griechenland und der Türkei zuständig ist. Eigentlich hat der Grundrechtsverantwortliche von Frontex der Agentur 2019 empfohlen, die Evros-Mission abzubrechen, falls dort weiterhin schwere Menschenrechtsverstösse auftauchten. Das ist bis heute nicht geschehen, trotz den zahlreichen Berichte über schwere Menschenrechtsverletzungen – darunter Pushbacks, Gewalt und mehrere Todesfälle (unter anderem als Folge von Pushbacks). Diese Folgen waren und sind weder Grund genug für Frontex, den Einsatz zu stoppen, noch für die Schweiz, sich aus diesen zurückzuziehen. Die EZV weigerte sich, in dieser Sache Stellung zu beziehen und die Positionen der Verwaltungsratsmitglieder der Schweiz offenzulegen. Sie betonte abwehrend, dass es nicht in der Kompetenz der Schweiz liege, „Untersuchungen über Vorkommnisse auf dem Staatsgebiet eines EU-Mitgliedstaats einzuleiten“ und verwies auf das Grundrechtsbüro von Frontex. Ein Blick auf ebendiese Abteilung unterstreicht derweil eindrücklich, dass Grundrechte in diesem Kontext keine Priorität haben, denn während dem die Agentur in allen Bereichen rasant wächst, geht es langsam voran, wenn es um das Einstellen von Grundrechtsbeauftragten geht. 40 an der Zahl hätten bis Ende 2020 ihre Arbeit aufgenommen haben sollen. Doch deren Einstellung kommt nur zögerlich voran: Auf Nachfrage teilt die EZV mit, dass nach wie vor nur 20 davon eingestellt sind.
Zwischen März und September 2020 nahmen vier Schweizer Grenzschützer*innen im Bereich Grenzüberwachung an der Evros-Mission teil. Evros ist der Grenzfluss zwischen Griechenland und der Türkei. Die Grenzregion ist ein schwer zugängliches und stark militarisiertes Gebiet. Frontex ist dort mit viel Personal und Einsatzgerät präsent – unter anderem Einsatzwagen, aber auch Drohnen und sogar mit einem Zeppelin als Überwachungsinstrument. Seit Jahren existieren Berichte von systematischen Pushbacks aus der Region. Ähnliche Berichte zu systematischer Gewalt mit Frontex-Beteiligung gibt es auch aus Bulgarien und Kroatien. Obwohl Frontex all die Gebiete intensiv überwacht, gibt es vonseiten der Grenzschutzagentur kaum Berichte von Pushbacks und anderen Menschenrechtsverletzungen. Ins gleiche Horn bläst auch die Schweiz: Die EZV unterstreicht, dass Schweizer Beamt*innen im Einsatz Menschenrechtsverletzungen umgehend melden müssten. Bei allen bisherigen Einsätzen seien aber keine entsprechenden Meldungen eingegangen. Das wirft Fragen auf: wie kann es sein, dass gut ausgebildete Einsatzkräfte in einer Region, in der systematische Menschenrechtsverletzungen begangen werden, während mehreren tausend Einsatztagen keinen einzigen berichtenswerten Vorfall sehen?
Immer mehr Einsätze, immer mehr Geld
Für 2021 sind 53 Einsätze mit insgesamt 1902 Einsatztagen geplant. Die geplanten Einsatzgebiete sind Griechenland, Bulgarien, Kroatien, Italien und Spanien. Das ist ein beachtlicher Anstieg im Vergleich zum Vorjahr. Doch nicht nur die geleisteten Einsatztage nehmen zu, sondern auch die finanzielle Beteiligung: Die Beitragszahlungen steigen ständig, bis 2027 auf gegen 60 Millionen CHF. Die Schweiz bezahlt gemessen an ihrer Einwohnerzahl und Grösse einen beachtlichen Teil des Frontex-Budgets, nämlich ungefähr 5%. Es ist die Europäische Abschottungspolitik in a nutshell: Binnenländer wie die Schweiz kaufen sich ein in ein System voll Militarisierung und Gewalt. Auf Kosten der Rechte von Menschen auf der Flucht.
Frontex als Symbol für die EU-Migrationspolitik
Die EU schuf in den letzten Jahren ein rigides Grenz- und Visaregime und zwingt dieses dank politischen Anreizen und wirtschaftlichem Druck einer immer grösser werdenden Zahl von Drittstaaten auf. Dank der Zusammenarbeit von Frontex, Organisationen wie der Internationalen Organisation für Migration (IOM, Genf), der DCAF oder der GIZ, sowie allerlei Regierungen hat sich dieses Regime in den letzten Jahren an vielen Orten festgebissen. Frontex ist keine einzelne oder isolierte Akteurin sondern vielmehr ein Symbol - nicht nur dieser Migrationspolitik, sondern auch von dem damit verbundenen wirtschaftlichen und weltpolitischen System. Europas einwanderungsfeindliche Politik und die damit verbundene Militarisierung der Grenzen weit über Europa hinaus, führt zu mehr Gewalt gegen und Risiken für Menschen auf der Flucht. Europa führt im Namen der Sicherheit einen Krieg gegen Migrant*innen. Diese müssen immer gefährlichere Migrationsrouten wählen und werden in die Hände von Menschenhändlern und Schlepperbanden getrieben. Doch es ist zynischerweise die EU selbst, die durch ihre Politik der Migrationsabwehr den Markt für Menschenhandel und Schlepperei, den sie angeblich bekämpfen will, überhaupt erst erschafft.
Gerade die letzten Wochen haben noch einmal deutlich gemacht, wie gegensätzlich die momentane Lage ist: Während dem die Frontex Scrutiny Working Group, die Menschenrechtsverletzungen und andere Verfehlungen von Frontex untersuchen sollte, einen zwar in Teilen kritischen aber letzten Endes milden Bericht veröffentlichte, hat die Agentur weiterhin mittels Drohnenflügen tausende Menschen zurück in die Folterlager von Libyen gedrängt und diverse Boote vor den Augen der Weltöffentlichkeit ertrinken lassen. Im Oktober 2021 führte der politische Druck sogar dazu, dass das Europäische Parlament 90 Millionen vom Frontex-Budget einfror, bis „relevante Verbesserungen“ erreicht seien. Gemeint sind damit unter anderem die immer noch nicht eingestellten Grundrechtsbeobacheter*innen. Das ist ein wichtiger, wenn aber auch nur ein symbolischer Entscheid, da der Betrag schlussendlich trotzdem zu Frontex fliesst. Und die Agentur dient unter diesen Rahmenbedingungen auch in Zukunft dazu, Migration im Sinne der Europäischen Staaten und mittels einer militärischen Maschinerie und einem millionenschweren PR-Apparat zu verhindern. Doch gerade dagegen schliessen sich Menschen zusammen: selbstorganisierte migrantische Gemeinschaften, tausende Menschen auf der Flucht die lautstark ihre Rechte einfordern und ein weitverzweigtes Netz an Aktivist*innen, die Bewegungsfreiheit für alle fordern und auf sichtbare und unsichtbare Weise versuchen, kleine Schlupflöcher zu finden und sich gemeinsam gegen das EU-Migrationsregime zu organisieren.
Dieses kleine Dossier ist ein Versuch, Licht auf die unterschiedlichen Tätigkeiten von Frontex und die Rolle vom Binnenland Schweiz in der EU-Abschottungspolitik zu werfen. Updates folgen.