Im Dezember 2023 fragten Sophie Guignard und Peter Frei in einem Artikel auf der Sosf-Homepage: «Dreht der Wind in der Asylpolitik?» Ein Jahr später muss man feststellen: Ja, der Wind hat gedreht und er ist zu einem Orkan geworden.
Europa macht es vor…
Schon im Frühjahr einigten sich die EU-Mitgliedstaaten und das Europäische Parlament auf die grösste Verschärfung des Asylrechts in ihrer Geschichte. Im Zuge des EU-Migrations- und Asylpakts sollen Asylsuchende bereits an den Aussengrenzen abgefangen und interniert werden, um sie dann möglichst schnell in ihre Herkunftsländer oder in vermeintlich sichere Drittstaaten ausschaffen zu können (siehe Sosf-Bulletin 2/2024). Vor allem von den Sozialdemokrat:innen im Europäischen Parlament wurde die Zustimmung zu dieser Aushebelung des Asylrechts mit den im Juni anstehenden Europawahlen begründet, vor denen die EU «Handlungsfähigkeit» beweisen müsse, um einen Rechtsrutsch zu verhindern.
Doch kein halbes Jahr nach der Wahl – der Rechtsrutsch wurde weder im Europäischen Parlament noch in zahlreichen nationalen Wahlen abgewendet – scheint es bereits so, als sei der Asylpakt Schnee von gestern. Neu auf der Tagesordnung stehen nun eine Verschärfung der Rückführungsrichtlinie – die im Pakt noch ausgespart wurde – sowie erneut die Auslagerung von Asylverfahren in Drittstaaten. Um «endlich im grossen Stil abschieben» zu können, wie es SPD-Bundeskanzler Olaf Scholz schon vor einem Jahr forderte, beauftragten die Staats- und Regierungschefs beim EU-Gipfel im Oktober die Europäische Kommission offiziell damit, strengere Rückführungsregeln auszuarbeiten. Angedacht wird dabei u.a., sämtliche Sozialleistungen für abgewiesene Asylsuchende zu streichen und Inhaftierungen zu erleichtern und zu verlängern. Im Gespräch ist auch eine einheitliche europäische Wegweisungsverfügung und eine Verdreifachung der Ständigen Reserve von Frontex, von aktuell geplanten 10 000 Kräften auf 30 000, die dann wohl vor allem für Ausschaffungen eingesetzt würden.
Vorausgegangen war dem ein Wettlauf der nationalen Alleingänge. Zahlreiche Staaten, darunter Frankreich und Deutschland, führten an ihren Landesgrenzen wieder Kontrollen ein, Polen und die Niederlande kündigten an, das Asylrecht ganz aussetzen zu wollen und Italien eröffnete in Albanien ein erstes Asylzentrum ausserhalb des Schengenraums. Strittig war auf dem EU-Gipfel nur noch, ob sogenannte «Return-Hubs» die «innovativste» Lösung seien – europäische Lager in Drittstaaten, in denen abgelehnte Asylsuchende auf die Rückkehr in ihre Herkunftsländer warten – oder ob die Asylverfahren gleich ganz in Drittstaaten ausgelagert werden sollten.
…und die Schweiz zieht nach
Die Schweiz schloss sich den Forderungen nach einem strengeren Ausschaffungsregime explizit an und unterzeichnete einen von Österreich und den Niederlanden initiierten Brief, mit dem 17 Schengen-Staaten Druck in Richtung einer Reform der Rückführungsrichtlinie aufbauten. Gleichzeitig feierte sie den neuen Direktor des SEM, Vincenzo Mascioli, der Anfang 2025 sein Amt antreten wird, dafür, dass es ihm gelungen war, erneut Ausschaffungen nach Afghanistan durchzuführen.
Auch sonst spiegelten sich viele der europäischen Themen in den Schweizer Debatten wider. Bereits im Februar wurde der Bundesrat durch ein Postulat von FDP-Ständerat Andrea Caroni damit beauftragt, verschiedene Optionen zur Auslagerung von Asyl- oder Rückkehrverfahren zu prüfen. Im Mai startete die SVP ihre «Grenzschutzinitiative», die das Asylrecht über Drittstaatenregelungen, Obergrenzen und systematische Grenzkontrollen inklusive völkerrechtswidriger Zurückweisungen komplett liquidieren möchte. Die Sammelfrist dieser auch «Asylchaos stoppen!» genannten Initiative endet im November 2025 und sie könnte im übernächsten Jahr zur Abstimmung kommen. Der Sommer wurde dann dominiert von den unsäglichen Debatten über die Praxisänderung in Asylverfahren von Afghaninnen und der Forderung, abgewiesene Eritreer:innen in Drittstaaten auszuschaffen.
In der Herbstsession folgte der nächste Dammbruch in der Schweizer Asylpolitik. Zwar konnte der Austritt aus der EMRK und die Einführung von Transitzonen an den Schweizer Grenzen noch verhindert werden. FDP und Mitte hielten es aber für opportun, trotzdem ein Zeichen zu setzen und einen offenen Bruch mit der Bundesverfassung zu unterstützen: ein Verbot des Familiennachzugs für vorläufig Aufgenommene, unter Missachtung des Grundrechts auf Achtung des Familienlebens.
Insbesondere die FDP tat sich auch nach der Session mit populistischem Geschrei hervor. In ihrem Positionspapier «Stopp der illegalen Migration» erklärte sie dieser in militärischem Duktus den Krieg. Inhaltlich zeugt das Papier von erschreckender Ahnungslosigkeit und zahlreichen Begriffsverwirrungen, scheut sich aber nicht, die ganz grosse Keule zu schwingen: «Die FDP hat diesen Staat gegründet. Sie wird ihn verteidigen. Auch gegen illegale Migration».
Unterstützt wird sie dabei von einer bürgerlichen Presse, die die imaginierten «Wünsche der Bevölkerung» über die Grund- und Menschenrechte stellt und das Asylrecht als ein Relikt vergangener Tage darstellt. Dem gegenüber steht jedoch ein Migrationsgeschehen, in dem die Asylgesuchszahlen ebenso sinken wie die registrierten undokumentierten Grenzübertritte. Das SEM kündigte im Oktober gar an, neun temporäre Asylzentren zu schliessen – es fehlen schlicht die Menschen, die in ihnen untergebracht werden könnten.
Was folgt als nächstes?
Im Anschluss an die Herbstsession reichten sowohl die SVP als auch die FDP neue Motionen ein, die die Angriffe auf das Asylrecht nahtlos fortsetzen. So spricht sich die FDP dezidiert für eine Übernahme der menschenverachtenden EU-Grenzverfahren auch in der Schweiz aus (24.3949) und die SVP will die Rechtsvertretung in Asylverfahren auf nicht-aussichtslose Fälle beschränken (24.4251), den Familiennachzug weiter einschränken und die Nothilfe für abgewiesene Asylsuchende ganz abschaffen (24.453).
Es gibt aber auch Lichtblicke. SP und Grüne wagen es im Parlament langsam wieder, auch offensive Vorstösse einzureichen. So fordert SP-Nationalrätin Nina Schläfli eine Ausweitung des Flüchtlingsbegriffs auf Kriegs- und Gewaltvertriebene (24.3969), wodurch diese der Degradierung auf den Status F entkommen könnten. SP-Nationalrätin Céline Widmer regt erneut die längst überfällige Wiedereinführung des Botschaftsasyls an, durch die weniger Menschen dazu gezwungen würden, auf dem Mittelmeer ihr Leben aufs Spiel zu setzen (24.4236). Und Grünen-Nationalrat und Sosf-Vorstandsmitglied Balthasar Glättli verlangt die Einführung eines einheitlichen humanitären Schutzstatus (24.4086), der das Elend der vorläufigen Aufnahme überwinden und nach fünf Jahren in der Schweiz in eine Aufenthaltsbewilligung münden würde.
In eine ähnliche Richtung geht auch die Forderung einer breiten Koalition von Asylorganisationen, die in der kürzlich abgeschlossenen Vernehmlassung zur Übernahme des EU-Migrations- und Asylpaktes verlangt, dass die Schweiz die Rechtsposition des subsidiären Schutzes der EU übernimmt. Mit dieser verleiht die EU Kriegs- und Gewaltvertriebenen einen positiven Schutzstatus, an den ebenso wie bei Glättlis Vorstoss fundamentalte Rechte wie die Reise- und Bewegungsfreiheit, reguläre Sozialhilfe und eine Aussicht auf Regularisierung geknüpft sind, die Geflüchteten mit vorläufiger Aufnahme in der Schweiz heute vorenthalten werden.
Dieser Artikel erschien zuerst im Sosf-Bulletin Nr. 4/2024.