Sosf: Die Schweiz ist über die Dublin-III-Verordnung am Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS) beteiligt. Was verbirgt sich dahinter?
Lara Hoeft: Als «Herzstück» des GEAS beinhaltet die Dublin-III-Verordnung Vorschriften zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist. Das Dublin-System soll sicherstellen, dass für jede Person genau ein Mitgliedstaat zuständig ist. Gleichzeitig soll es verhindern, dass Asylsuchende entweder parallel oder hintereinander mehrere Asylanträge in verschiedenen Mitgliedstaaten stellen. Kennzeichnend für das Dublin-Regime ist, dass die Asylsuchenden nicht selbst entscheiden können, in welchem Land sie ein Asylverfahren durchlaufen möchten. Das System basiert auf der Annahme, dass die Schutzsysteme in allen Mitgliedstaaten gleich sind. Beispiele wie Kroatien, Griechenland, Bulgarien und Lettland zeigen jedoch eine andere Realität.
Im Zuge der GEAS-Reform wird aus der Dublin-III-Verordnung neu die Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung (AMMV). Ist das nur alter Wein in neuen Schläuchen oder gibt es grundlegende Änderungen?
Der Wein ist schon lange alt, wird nun aber noch ungeniessbarer. Alle grundlegenden Prinzipien des Dublin-System, insbesondere das Verantwortungsprinzip, bleiben bestehen. An den bekannten Problemen wird sich also nichts ändern: Diejenigen Staaten, die die Einreise von Asylsuchenden erlaubt oder nicht verhindert haben, werden auch weiterhin für daraus resultierende Asylanträge zuständig sein. Und das sind und bleiben in der Regel die Länder an den Aussengrenzen.
Was ändert sich darüber hinaus?
An vielen Stellen werden erhebliche Verschärfungen eingeführt, vor allem bei den Fristen. Aktuell erlischt beispielsweise die Zuständigkeit eines Mitgliedstaats, wenn die asylsuchende Person den Schengenraum für drei Monate verlassen hat. Diese Frist wird auf neun Monate erhöht. Ist eine Person mit einem Visum eingereist, ist der Visum ausstellende Mitgliedstaat im Moment noch sechs Monate nach Ablauf des Visums für ein allfälliges Asylgesuch zuständig. In der AMMV wird diese Frist auf 18 Monate verlängert.
Eine weitere deutliche Verschärfung ist der Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden (UMAs). Momentan ist stets der Staat, in dem sich UMAs aufhalten, für das Asylverfahren verantwortlich. Das bedeutet, dass UMAs derzeit nicht von Dublin-Überstellungen betroffen sind und sich faktisch aussuchen können, in welchem Land sie ihr Asylverfahren durchführen möchten. Diese Regelung wird abgeschafft! Neu soll grundsätzlich der Staat der ersten Einreise zuständig sein, «sofern dies dem Wohl des Kindes dient».
Und wie sieht es bei den Fristen für die Dublin-Überstellungen aus?
Nach einem rechtskräftigen Dublin-Entscheid hat die Schweiz derzeit sechs Monate Zeit, um die betroffene Person in den zuständigen Mitgliedstaat auszuschaffen, beginnend ab der Zustimmung des zuständigen Mitgliedstaats oder ab einem negativen Urteil des Bundesverwaltungsgerichts. Gelingt das nicht, wird die Schweiz selbst für das Asylverfahren und die Vergabe einer Aufenthaltsbewilligung zuständig.
Diese sogenannte Überstellungsfrist kann auf 18 Monate verlängert werden, wenn die Person als «flüchtig» angesehen wird. Wann dies der Fall ist, ist nicht genau definiert und wird immer wieder vor Gerichten ausgefochten. Durch die AMMV soll diese Frist auf drei Jahre verlängert werden können und das in deutlich mehr Fällen. Zum Beispiel wenn eine Person «die für die Überstellung erforderlichen medizinischen Anforderungen nicht erfüllt». Das lässt den Behörden sehr viel Spielraum und macht Erkrankungen oder Krankenhausaufenthalte zu einem potenziellen Grund für eine Verlängerung der Überstellungsfrist. Für die Betroffenen bedeutet das: Jahrelange Unsicherheit und Illegalisierung.
Welche Ziele werden mit diesen Verschärfungen verfolgt?
Das Ziel ist aus meiner Sicht, die derzeitigen ¨Widerstandsstrategien von Asylsuchenden einzuschränken und die sogenannte Sekundärmigration zu verhindern. Hierfür spricht auch, dass gewisse Rechte und Garantien aus der Aufnahmerichtlinie neu nicht mehr gelten, wenn sich eine Person in einem nicht für sie zuständigen Mitgliedstaat aufhält. Die EU-Gesetzgeber:innen haben bisher genutzte Umgehungsstrategien der Asylsuchenden und «Lücken» in der Dublin-Verordnung erkannt und gestalten die AMMV nun noch nachteiliger für die Asylsuchenden, als die Dublin-Verordnung ohnehin schon ist.
Was sind die Folgen für die Schweiz? Was wird sich im Schweizer Asylsystem ändern?
Die Reform von Dublin muss im Zusammenhang mit dem gesamten Gesetzespaket gesehen werden. Insofern werden sich insbesondere die Überwachung der Asylsuchenden und die Bedingungen, unter denen Menschen im Dublin-Verfahren leben, weiter verschlimmern. Eine erhebliche Gefahr sehe ich wie gesagt bei der Möglichkeit der Verlängerung der Überstellungsfrist auf drei Jahre und der damit einhergehenden dauerhaften Entrechtung der Betroffenen. Bereits jetzt setzt die Schweiz die Dublin-Verordnung deutlich strikter als andere Länder um. Die AMMV gibt dem SEM in Zukunft einen noch grösseren Spielraum.
Du bist in der Rechtsberatung bei Pikett Asyl täglich mit Dublin-Fällen konfrontiert. Welche Auswirkungen werden die erwähnten Änderungen auf das Leben der Geflüchteten haben?
Extrem belastend für viele unserer Ratsuchenden ist die «verlorene» Zeit des Wartens auf den Ablauf der Überstellungsfrist und die damit verbundene Unsicherheit. In dieser Zeit können die Menschen nur sehr begrenzt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen, etwa durch zivilgesellschaftlich getragene Deutschkurse oder Programme. Da sie unabhängig von ihren Asylgründen als abgewiesene Asylsuchende gelten, haben sie faktisch keine Möglichkeit zu arbeiten oder ihren Interessen nachzugehen. Dazu kommt die Intransparenz über den Ausschaffungsprozess und die ständige Gefahr einer unangekündigten Ausschaffung. Dies wird sich durch die vereinfachte Verlängerung der Überstellungsfrist auf drei Jahre noch erheblich verschlimmern. Ausserdem werden durch die Verschärfungen weitere Umgehungsstrategien quasi verunmöglicht, selbst wenn diese bereits jetzt schon schwierig umzusetzen waren.
Wenn viele bisherige Schlupflöcher geschlossen werden, gibt es dann überhaupt noch Spielraum für widerständige Praktiken?
Es gibt immer Spielräume, letztlich reagiert das Gesetz ja nur auf die vielfältigen Strategien der Migrant:innen. Die Menschen werden neue Wege finden und auch diese Gesetzesverschärfung wird weder die Migration in die EU noch die Migration innerhalb der EU verhindern können.
Lara Hoeft ist Rechtsberaterin und Co-Geschäftsleiterin des Vereins Pikett Asyl
In Kürze: Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung
Die AMMV ersetzt die Dublin-III-Verordnung und sollte ursprünglich den Weg zu einer solidarischeren Verteilung der Asylsuchenden auf alle Mitgliedstaaten ebnen. In der nun verabschiedeten Form setzt sie jedoch die ungleiche Verteilung nahtlos fort und wird zu noch mehr Ausschaffungen innerhalb des Schengenraums führen. Der «Solidaritätsmechanismus» ist zu einem Ablasshandel verkommen, mit dem sich migrationsfeindliche Staaten von ihren asylrechtlichen Verpflichtungen freikaufen können.
Dieses Interview erschien zuerst im Sosf-Bulletin Nr. 2/2024.