Verzweiflung und Tod an den Zäunen von Ceuta
Seit dem «arabischen Frühling» konzentrierten sich die Nachrichten über die EU-Aussengrenzen auf Lampedusa. Die sechs Meter hohen doppelten Stacheldrahtzäune rund um Ceuta und Melilla, die lange die sichtbaren Symbole für die Festung Europa waren, gerieten in Vergessenheit – und mit ihnen die Situation der afrikanischen MigrantInnen und Flüchtlinge in Marokko. Seit Anfang Februar dieses Jahres sind die beiden spanischen Städte auf dem afrikanischen Kontinent wieder in die Nachrichten gerückt. Peio Aierbe von SOS-Racismo/Mugak vertritt die spanischen Organisationen im Verwaltungsrat von Migreurop. Im Interview mit Sosf gibt er Antworten auf brennende Fragen.
Sosf: Die schweizerischen Medien brachten nur kurze Informationen über die Vorkommnisse in Ceuta. Was ist dort passiert?
Peio Aierbe: Was wir hier erlebt haben, ist das Ergebnis zweier politischer Entwicklungen: Zum einen hat sich die EU die unmögliche Aufgabe EU gestellt, alle Wege nach Europa zu verstopfen. Zum andern hat die marokkanische Regierung eine Welle der Repression gegen die ImmigrantInnen auf ihrem Territorium losgetreten, insbesondere gegen AfrikanerInnen von südlich der Sahara. Dieser doppelte Druck stürzt Tausende in eine verzweifelte Situation. Sie riskieren ihr Leben, um aus dieser Hölle zu entkommen. Am 6. Februar haben mehrere hundert Personen versucht, Ceuta zu erreichen. Ein Teil kletterte über die Sperranlagen, andere versuchten diese schwimmend im Meer zu umrunden. Die Guardia Civil setzte Rauchgranaten ein und feuerte mit Schreckschussmunition und Gummigeschossen auf die Leute. Mindestens 15 Personen, MigrantInnen und potenzielle Asylsuchende, ertranken. 23 weitere schafften es bis zum Strand von Ceuta. Die Guardia Civil übergab sie der marokkanischen Polizei.
Wie hat die spanische Öffentlichkeit reagiert?
In Spanien haben diese Ereignisse die öffentliche Meinung erschüttert. Das Bild von 15 Leichen bewirkt mehr als lange Diskurse über Migrationspolitik. Der Innenminister musste mehrmals vor dem Parlament Rede und Antwort stehen. Die Medien haben sich ausführlich mit den Vorkommnissen befasst und das polizeiliche Vorgehen deutlich kritisiert. Zudem hat der Richter die Aufzeichnungen der Videokameras angefordert, mit denen der gesamte Grenzbereich überwacht wird. Die Veröffentlichung dieser Bilder gaben der Öffentlichkeit auch einen visuellen Eindruck von dem repressiven Vorgehen der Guardia Civil.
Wie rechtfertigt die Regierung die gewaltsamen Aktionen der Guardia Civil?
Sie verfuhr einmal mehr nach dem alten Drehbuch. Zunächt haben die Behörden die Verwendung von Aufstandsbekämpfungsmitteln abgestritten. Als die Videos veröffentlicht wurden – zuerst die von Privaten, dann die der Überwachungskameras – war das Leugnen nicht mehr möglich. Es folgten sich widersprechende Versionen, bis der Innenminister in seiner Rede vor dem Parlament das Vorgehen der Guardia Civil einfach so bestätigte.
Was passierte mit denen, die es über die Grenze geschafft haben?
Auch hier gab es sich widersprechende Versionen. Seit vielen Jahren werden Leute, die es über die Zäune geschafft oder schwimmend Ceuta erreicht haben, einfach nach Marokko zurückgeschoben. Dasselbe passiert in Melilla. Die NGOs haben immer wieder dagegen protestiert. Und die Behörden haben immer alles abgestritten, obwohl die NGOs über zahlreiche Beweisvideos verfügen. Im vorliegenden Fall gab es nach der Veröffentlichung der offiziellen Aufnahmen aus den Überwachungskameras nichts mehr zu leugnen. Das Innenministerium griff dann auf absurde Erklärungen zurück, dass die Grenze erst überschritten sei, wenn man sich hinter der Linie der Guardia Civil befände. Es hat also definitiv das polizeiliche Vorgehen geschluckt.
Was war die Antwort der solidarischen Organisationen?
Nach dem Tod der 15 Personen haben wir bei der Staatsanwaltschaft eine Anzeige eingereicht und die Aufnahme von Ermittlungen gefordert. Die Untersuchungsrichterin hat ein Verfahren eröffnet und zwei Volksanklagen wurden eingereicht, eine durch die Coordinadora de Barrios und die andere durch die in Migreurop vertretenen spanischen Organisationen .
Zudem wurden mehrere Berichte bei europäischen Institutioenen eingereicht. 37 Organisationen haben zusammen der EU-Kommission und dem Europarat ein Dokument vorgelegt, indem sie die Vorfälle detailliert schildern und die Gesetzesverstösse anprangern. Die Gruppe Ca-minando Fronteras veröffentlichte einen Bericht mit Informationen über jeden einzelnen Toten und mit Aussagen der nach Marokko zurück geschafften.
Was erwartet diese Leute in Marokko?
Harte Repression und in vielen Fällen auch die Ausweisung. Die von der spanischen Regierung als «heisse Ausweisung» bezeichneten Rückschaffungen nach Marokko stellen eine klare Verletzung des geltenden Rechts dar, insbesondere des Rechts auf Asyl und des «non refoulement», denn diese Leute könnten gegebenenfalls, ein Gesuch auf internationalen Schutz stellen, wie es in Art. 3 der EMRK, Art. 18 der EU-Grundrechte-Charta und in Art. 6 der Asylverfahrenrichtlinie der EU vorgesehen ist. Das spanische Ausländergesetz verbietet zudem Kollektivausschaffungen und verlangt ein individuelles Verfahren mit Rechtsvertretung und Rekursmöglichkeit. All das hat es in diesem Fall nicht gegeben.
Auch nach dem 6. Februar haben Leute versucht, über die Zäune zu klettern. Schauplatz war in diesem Fall Melilla.
Stimmt. Die Situation an den Grenzen von Ceuta und Melilla ist derart explosiv, dass es solche Versuche trotz des massiven Polizeiaufgebots auf beiden Seiten und trotz der schlimmen Verletzungen durch den Stacheldraht immer wieder gibt. In den letzten drei Monaten haben es mehrere hundert Menschen nach Melilla geschafft. Die mediale Aufmerksamkeit sorgt dafür, dass solche Fälle nun auch öffentlich werden. Hinzu kommt, dass die Guardia Civil und die Policía Nacional nicht mehr ohne Weiteres das Recht verletzen können. Die Regierung will daher nun das Gesetz ändern, um die repressiven Praktiken, die heute illegal sind, zu legalisieren. Aber gegen diese Bedrohung werden die Menschenrechtsorganisationen in jedem Fall juristisch und mit gewichtigen rechtlichen Argumenten vorgehen.
Was sind die Chancen für die Flüchtlinge und MigrantInnen, die es nach Ceuta oder Melilla geschafft haben? Können sie die beiden Enklaven verlassen? Können sie ein Asylgesuch stellen und welche Chancen haben sie? Wie viele können am Ende in Spanien bleiben?
Wer es nach Ceuta oder Melilla schafft, kommt zunächst in ein Auffanglager, ein Centro de Estancia Temporal de Inmigrantes (CETI). Solche Zentren gibt es in beiden Städten. Die sind zwar offen, aber weil die Betroffenen in diesen beiden Städten in Afrika fest sitzen und nicht auf die iberische Halbinsel weiterreisen dürfen, ist es so als wären sie in geschlossenen Zentren. Nicht umsonst sprechen die MigrantInnen in Ceuta vom «süssen Gefängnis». Die Leute erhalten eine Wegweisungsverfügung, die aber nicht über die Grenze nach Marokko vollzogen werden kann, weil Marokko sie nicht anerkennt. Die MigrantInnen müssten deshalb in ein Internierungszentrum überstellt und von dort aus in ihr Herkunftsland ausgeschafft werden. Praktisch ist das aber in den letzten zwei Jahren nur selten vorgekommen. Der Normalfall ist, dass man die Leute nach etwa einem halben Jahr auf die Halbinsel schickt, wo sich Hilfsorganisationen ein paar Monate um sie kümmern. Danach stehen sie auf der Strasse, ohne Aufenthaltsbewilligung, aber mit einer Wegweisungsverfügung.
In Ceuta und Melilla sind auch Asylgesuche möglich. Sie werden nach dem gleichen Verfahren behandelt wird wie im Rest des spanischen Staates. Aber obwohl über die Hälfte der Leute, die nach Ceuta oder Melilla kommen, die Voraussetzungen für ein erfolgreiches Gesuch erfüllen, macht das niemand. Der Grund dafür ist, dass die spanische Regierung eine Bestrafungspolitik praktiziert. Wer in einer der beiden Städte ein Asylgesuch stellt, darf sie erst dann verlassen, wenn über das Gesuch entschieden ist – und das kann mehrere Jahre dauern. Ohne Asylgesuch kommt man dagegen nach einigen Monaten auf die Halbinsel. So schreckt man die Leute natürlich ab.
Siehst Du andere als repressive Möglichkeiten, um mit dieser Situation umzugehen?
Die gibt es zweifellos. Was fehlt, ist der politische Wille. Und damit meine ich nicht eine radikale Veränderung der EU-Migrationspolitik. Die wäre zwar dringend notwendig, um eine grundsätzliche Lösung herbeizuführen. Klar ist aber auch, dass so etwas viel Zeit braucht. Aber auch im Rahmen der bestehenden Gesetze gibt es Handlungsmöglichkeiten, aber dafür braucht es die Bereitschaft, die Ermessenspielräume zu nutzen, um die Probleme zu lösen. Die spanischen Mitgliedsorganisationen von Migreurop haben ein Manifest erarbeitet. Sie fordern, dass sich die spanische Regierung und die EU für eine Regularisierung im Rahmen des aktuellen Prozesses in Marokko engagieren. Sie sollen den Familennachzug für diejenigen erleichtern, die Angehörige in der EU haben. Sie sollen denjenigen, die die Voraussetzungen eines Asylgesuchs erfüllen, die Einreise in die EU gestatten. Und sie sollen eine viel weniger restriktive Visumspolitik gegenüber den afrikanischen Staaten betreiben, als das bisher der Fall ist.
AutorInnen: Heiner Busch und Amanda Ioset
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«Verzweiflung und Tod an den Zäunen von Ceuta» ist im Bulletin 02/14 von Sosf zu finden
Weitere Informationen:
- Das gemeinsame Dossier der 37 Organisationen
- Der Bericht von Caminando fronteras
- Das Manifest von Migreurop-Spanien
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Zu Migreurop gehören folgende Organisationen in Spanien: Comisión Española de Ayuda al Refugiado (Flüchtlingshilfskommission, www.cear.es), Andalucía Acoge (Andalusien nimmt auf, www.acoge.org), Asociación Pro Derechos Humanos de Andalucía (Andalusische Menschenrechtsvereinigung, www.apdha.org), ELIN (www.asociacionelin.com) und SOS-Racismo mit seinen diversen lokalen Vereinigungen, darunter das Dokumentations- und Studienzentrum über Einwanderung, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in San Sebastian/Donostia, Mugak, das auch die gleichnamige Zeitschrift herausgibt (www.mugak.eu)