Oder warum ich am 15. Mai mit NEIN zur Erhöhung des Frontex-Budgets stimmen werde.
Charles Heller, Forscher am IHEID, Ko-Direktor der Agentur Border Forensics und Ko-Vorsitzender des Migreurop-Netzwerks. 29. April 2022
Ich schreibe diese Zeilen, nachdem Fabrice Leggeri gerade seinen Rücktritt als Exekutivdirektor von Frontex, der Europäischen Grenz- und Küstenwachagentur, eingereicht hat. Dieser Rücktritt erfolgte nach Monaten aufeinanderfolgender Enthüllungen über die Beteiligung von Frontex an Menschenrechtsverletzungen, insbesondere im Rahmen ihrer Operationen an den osteuropäischen Grenzen und in Griechenland. Da ich mich in meiner Forschung seit über zehn Jahren auf das zentrale Mittelmeer konzentriert habe, überraschen mich diese Enthüllungen absolut nicht. Im Rahmen einer meiner Untersuchungen im Rahmen des Forensic Oceanography Project (Death by Rescue, 2016) haben wir nachgewiesen, dass Frontex im Sommer 2014 eine regelrechte Kampagne führte, um die italienische militärisch-humanitäre Operation Mare Nostrum zu stoppen. Frontex beschuldigte die zwischen 2013 und 2014 durchgeführte Operation, die eine große Anzahl von MigrantInnen, die unter dramatischen Bedingungen aus Libyen flohen, proaktiv gerettet hatte, eine "Lockvogeltaktik" darzustellen, die zu noch mehr Überfahrten führen würde. Um MigrantInnen davon abzuhalten, den europäischen Kontinent zu erreichen, setzte Frontex alles daran, die Operation Mare Nostrum einzustellen und sie durch eine Frontex-Operation zu ersetzen, die weit von der libyschen Küste entfernt war und deren Ziel die Grenzkontrolle und nicht die Seenotrettung war. Ihr Name: Operation Triton. Diese operative Änderung wurde in Folge umgesetzt. Dies trotz der einhelligen Meinung von Akteuren, die sich für die Rechte von Migrantinnen und Migranten einsetzen, und sogar trotz interner Frontex-Bewertungen, die vorhersagten, dass das Ende von Mare Nostrum nicht zu weniger Überfahrten, sondern zu mehr Todesfällen auf See führen würde. Genau diese Realität hat sich auf tragische Weise bestätigt - insbesondere mit dem Schiffsunglück vom 18. April 2015, das mit über 950 Toten das tödlichste in der jüngeren Geschichte des Mittelmeers war. Nach diesem Schiffbruch gab der Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, zu, dass "es ein schwerer Fehler war, Mare Nostrum zu beenden. Es hat Menschenleben gekostet". Man hätte erwarten können, dass Frontex nach diesem Eingeständnis für seine Rolle bei dieser tödlichen operativen Änderung bestraft wird. Dem war aber nicht so: Die Frontex-Operation wurde verstärkt und das Budget der Agentur erhöht. Und die tödliche Rettungslücke, die das Ende von Mare Nostrum hinterlassen hatte, wurde nie geschlossen.
All dies mag weit entfernt erscheinen. Genauso wie die laufenden Untersuchung der Frontex-Flugzeuge und -Drohnen durch Border Forensics. Wir untersuchen wie Frontex die libysche Küstenwache über die Anwesenheit von Migranten informiert, damit diese abgefangen und nach Libyen zurückgebracht werden können - trotz all des Wissens über die unmenschlichen Bedingungen, denen sie dort ausgesetzt sind. Aber ein Blick auf die Geschichte ist wichtig, denn sie zeigt die Rolle von Frontex bei der Konstruktion von MigrantInnen als Bedrohung, der Einführung immer teurerer und militarisierterer Grenzkontrolloperationen, der Missachtung für das Leben und die Rechte von Migranten, die die Agentur antreibt, und der Straffreiheit, die rund um ihre Aktivitäten herum organisiert wurde. Trotz des öffentlichen und politischen Drucks, dem Frontex heute ausgesetzt ist, wird dieser Zustand nicht grundlegend in Frage gestellt werden und auch der Weggang von Fabrice Leggeri wird daran nichts Wesentliches ändern.
Aber es gibt noch mehr. Ich schreibe diese Zeilen auch zu einem Zeitpunkt, an dem die Schweiz und die EU seit zwei Monaten eine Politik der selektiven Öffnung gegenüber Flüchtlingen aus der Ukraine verfolgen. Für eine (zu) kleine Gruppe von Menschen wurde ein Paradigmenwechsel vollzogen: Die Mobilität von Menschen, die Zuflucht suchen, soll ermöglicht und ihre Rechte anerkannt werden, anstatt sie um jeden Preis zu blockieren. Durch diese offene Lücke wird nun für die breite Öffentlichkeit offensichtlich, was für viele Forscher und Forscherinnen und Akteure der Zivilgesellschaft schon lange klar war: Der restriktive und militarisierte migrationspolitische Ansatz der EU ist kein unabwendbares Schicksal, eine offenere, die Rechte respektierende Politik ist möglich und diese würde Akteure wie Frontex überflüssig machen.
Das Referendum am 15. Mai über die Finanzierung von Frontex bietet der Schweizer Bevölkerung die Gelegenheit, nicht länger Komplizin einer Agentur zu sein. Komplizin einer Agentur, deren immer kostspieligere Aktivitäten die "Bedrohung durch Migration", ein Narrativ, das Frontex selber mitaufgebaut hat, nie beendet hat und die zur Verletzung der Rechte von Migrantinnen und Migranten und zu Tausenden Toten führen, die ungestraft bleiben. Die Weigerung, Frontex zu finanzieren, muss Teil einer grundlegenden Neuorientierung der schweizerischen und europäischen Migrationspolitik sein.
Ich habe meine Wahl getroffen. Es wird ein klares Nein zu Frontex und ein Ja zu einer solidarischen und offenen Politik sein. Die Schweizerinnen und Schweizer müssen ihre eigene Entscheidung treffen und eine starke Botschaft aussenden, die europaweite Resonanz finden könnte.