Moreno Casasola
«Fakt ist: Diese Abschottungspolitik nimmt Tote in Kauf»
Von Sibylle Dirren (WOZ)
WOZ: Herr Casasola, eine schwangere Frau verlor letzte Woche ihr ungeborenes Kind, wohl weil Grenzbeamte sie nach Italien zurückschoben, statt ihr medizinische Hilfe zukommen zu lassen. Die Empörung ist gross.
Moreno Casasola: Die Medien skandalisieren diesen Einzelfall und tun so, als wäre er nicht systembedingt. Es wird Untersuchungen geben, und man wird wahrscheinlich einem oder mehreren Grenzbeamten die Schuld zuweisen. Dabei werden ständig Migranten und Migrantinnen ohne Rücksicht auf ihren Gesundheitszustand zurückgeschafft. Meistens stirbt dabei niemand, weswegen auch niemand darüber redet. Die dahinterstehende Logik aber, die ist politisch gewollt. Grenzbeamte werden geradezu dazu angehalten, die bürokratische Praxis über die Mitmenschlichkeit zu stellen.
Sie unterstellen den Behörden, Todesfälle in Kauf zu nehmen.
Ich unterstelle nicht, ich stelle fest. Die Migrationsdebatte dreht sich fast nur noch um die Frage der Nützlichkeit der Menschen, die in die Schweiz kommen. Zuwanderung wird nur noch toleriert, wenn die Leute, die kommen, einen sofortigen Nutzen bringen. Auf alle anderen wird mit einer Politik der Abschottung und der Abschreckung reagiert. Dass dabei auch Tote in Kauf genommen werden, ist ein Fakt – meist geschieht es halt im Mittelmeer und nicht bei uns.
Jetzt reden Sie so, als würde die Schweiz überhaupt keine Flüchtlinge aufnehmen.
Nein. Aber die Logik von nützlich beziehungsweise unnütz, die sieht man in abgewandelter Form auch im Asylbereich. Unterschieden werden sogenannte echte und unechte Flüchtlinge. Und in Bundesrätin Simonetta Sommarugas zukünftigem Konzept werden die «Unechten» – quasi alle, die nicht nett und lieb sind – möglichst unsichtbar gemacht und möglichst direkt wieder zurückgeschickt. Deswegen werden Asylgesuche zunächst in Bundeszentren abgehandelt. Erst für «echt» befundene Flüchtlinge mit aussichtsreichen Gesuchen werden danach auf die Kantone verteilt. Diese Neustrukturierung des Asylsystems ist eine Art Konsumentenschutz – Sommaruga war ja oberste Konsumentenschützerin – mit der besorgten Bevölkerung in der Rolle des Konsumenten. Teile der Bevölkerung fühlen sich von fast jedem Typus Flüchtling bedroht, also sollen sie nur noch mit «echten» Flüchtlingen in Kontakt kommen. Ich halte das für extrem gefährlich und rückständig.
Wieso?
Weil dadurch realitätsferne Ängste der Bevölkerung ernst genommen werden. Die Bedrohung wird für real erklärt, obwohl sie nicht existiert. Auf diesem Weg wird sich die Situation im Asylbereich niemals entspannen. Für eine positive Veränderung müsste das exakte Gegenteil gefördert werden: die Begegnung. Darüber hinaus verfestigt die Neustrukturierung das Dublin-System, nach dem stets das Einreiseland für das Asylverfahren eines Flüchtlings zuständig ist. Mittlerweile dürfte klar sein, dass dieses System so ungerecht wie tödlich ist und deshalb zwingend überdacht werden muss – auch wenn die Schweizer Behörden zu den grössten Profiteuren des Systems gehören.
Bundesrätin Sommaruga hat doch kürzlich in Mailand gesagt, sie sei bereit, das Dublin-System neu zu diskutieren. Sollen Flüchtlinge bereits in Nordafrika vom UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) ausgewählt und anschliessend proportional zur Bevölkerung auf die verschiedenen europäischen Länder verteilt werden?
Und wer würde denn dabei als «echter» Flüchtling definiert? Das UNHCR folgt leider einer relativ überholten Flüchtlingsdefinition; das wäre mir deshalb suspekt. Das europäische Asylwesen krankt daran, dass es für einen Grossteil der Flüchtlinge nicht mehr geeignet ist. Deswegen bräuchte es ausserhalb des Asylbereichs unbedingt Alternativen zur illegalen Einreise. Und das Dublin-System krankt wiederum daran, dass es die totale Kontrolle verlangt. Es wäre besser, wenn Asylsuchende ihr Destinationsland innerhalb Europas selber bestimmen könnten und dabei allfällig auftretende Ungleichverteilungen über einen Finanztopf zum Lastenausgleich geregelt würden. Konkret: Wenn beispielsweise sehr viele Flüchtlinge nach Schweden gingen, erhielte Schweden entsprechend mehr Geld. Vielleicht würde dies auch zu einem Negativwettbewerb der Staaten führen, aber dem könnte über verbindliche Normen vorgebeugt werden.
Übrigens hat Bundesrätin Sommaruga nicht von einer Neuordnung oder Abkehr, sondern von einer Weiterentwicklung des Dublin-Systems gesprochen. Das ist nicht dasselbe, und man könnte sich wesentlich deutlicher ausdrücken, wenn man nur wollte.
Hatten Sie von der Sozialdemokratin Sommaruga eine grundsätzlich andere Politik erwartet?
Eigentlich nicht. Ich habe einmal gesagt, dass ich sogar die FDP-Hardlinerin Karin Keller-Sutter bevorzugen würde, und bekam dafür reichlich auf den Deckel. Jedenfalls könnte die aktuelle Stossrichtung im Asylbereich auch von Keller-Sutter stammen, wobei sie einen anderen Anstrich gewählt und weniger humanistische Rhetorik zur Tarnung verwendet hätte. Die Schutzquoten im Asylbereich waren in den letzten drei Jahren jedenfalls sogar niedriger als zuvor. Sommarugas Umstrukturierungspläne sind deshalb so bedeutsam, weil sie beschleunigte Asylverfahren versprechen – eine Art eierlegende Wollmilchsau. Für eine Beschleunigung braucht es aber keine grosse Umstrukturierung und schon gar keine, die zuungunsten der Betroffenen ausfällt, indem beispielsweise die Verfahrens- und Beschwerdefristen verkürzt werden.
Was braucht es stattdessen?
Es wäre ganz simpel: Man muss die Gesuche behandeln, statt sie absichtlich liegen zu lassen. Behandlung führt zu Beschleunigung, so einfach ist das. Die meisten aktuell unbehandelten Gesuche würden zu einem positiven Ausgang führen. Aber gegen solche echten Verbesserungen wehrt sich wiederum das Bundesamt für Migration (BFM), weil es befürchtet, dass dadurch mehr Flüchtlinge in die Schweiz kommen würden.
Das Asylgesetz wurde in den letzten dreissig Jahren zwölfmal verschärft. Als Sie vor vier Jahren bei Solidarité sans frontières anfingen, wussten Sie doch, Sie würden das nicht aufhalten können. Wie gehen Sie mit dem Frust um?
Es sind ja nicht nur abstrakte politische Fragen. Es ist zum Beispiel immer schwierig, mit dem Schicksal eines Flüchtlings konfrontiert zu werden und diese Ohnmacht zu spüren, nichts Konkretes gegen einen negativen Entscheid unternehmen zu können. Da macht sich oft ein Gefühl der Verzweiflung breit, und man denkt, es führt nirgendwo hin, alles, was man macht, bringt nichts. Man denkt immer wieder: Vergiss es, gib auf! In diesen Momenten sage ich mir jeweils: Die schlimmste Niederlage ist es, abzustumpfen und zu resignieren, sich nicht mehr mit den Flüchtlingen und ihrer Situation auseinanderzusetzen.
Die Position, die Solidarité sans frontières vertritt, halte ich noch immer für logisch und ethisch richtig. Wenn diese Haltung überlebt, wird sie sich deshalb irgendwann durchsetzen. Als Historiker suche ich Trost in Fakten. Die Geschichte hat gezeigt, dass man zwar nicht alles heute erreicht, aber wenn nicht heute, dann oftmals morgen oder übermorgen. Denken Sie zum Beispiel ans Frauenstimmrecht.
Diese Haltung vertreten Sie manchmal auch im Bundeshaus, quasi als Migrationslobbyist. Ihre Position ist dermassen weit entfernt von der politischen Realität, dass man sich fragt: Verstehen die Politikerinnen und Politiker überhaupt, was Sie ihnen sagen wollen?
Mein Einfluss im Bundeshaus ist tatsächlich sehr beschränkt. Es gibt Leute in der Wandelhalle, die eine ganz andere Macht hinter sich haben. Aber Diskutieren ist immer wichtig. Es kann nützlich sein, wenn ein Parlamentsmitglied, das nicht so nahe an einem Thema dran ist, zumindest noch eine zweite Sichtweise hört. Ich behaupte ja nicht, ich hätte die Wahrheit gepachtet, interessiere mich umgekehrt also auch für andere Sichtweisen im Parlament.
Grosse Mühe bereitet mir indes, dass überhaupt gar keine Alternativen diskutiert werden. Das gilt übrigens nicht nur für die Parlamente, sondern auch für gewisse Hilfswerke. Manchmal frage ich mich: Ist da überhaupt noch ein politisches Bewusstsein vorhanden?
Meinen Sie damit die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH)?
Ja. Es macht sich halt bemerkbar, wenn der Dachverband zum Schutz von Flüchtlingen einen grossen Teil seiner Brötchen vom BFM bezahlt bekommt. Dadurch erscheint mir die SFH je länger, je mehr wie der verlängerte Arm des Bundesamts. Sie agiert oftmals opportunistisch und feig, stellt Popularität über den Mut zur Gerechtigkeit, schweigt zu den groben Missständen und ist bis zum Durchwinken unkritisch.
Nehmen wir zum Beispiel den sogenannten kostenlosen Rechtsschutz im neuen Asylverfahren, den die SFH im Auftrag des Bundes anbietet. Einige Linke und der Grossteil der Hilfswerke erachten ihn beinahe unhinterfragt als erstrebenswert. Im Grundsatz ist ein verbesserter Rechtsschutz eine Errungenschaft, klar. Doch er ändert nichts an der engen Auslegung des Flüchtlingsbegriffs, führt also nicht dazu, dass mehr Flüchtlinge Asyl bekommen. Im Kontext der restlichen Umstrukturierungspläne wird er deshalb zum Feigenblatt.
Sie hören bei Solidarité sans frontières Ende des Monats auf. Was machen Sie als Nächstes?
Ich denke, ich werde mich um die Stelle des Generalsekretärs der SFH bewerben – das wird dort sicherlich auf grosse Begeisterung stossen.
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Quelle: WOZ Nr. 29/2014 vom 17.07.2014