Meral Kaya interessiert sich für Leute am unteren Rand der Gesellschaft. Neben ihrem Praktikum bei Solidarité sans frontières arbeitet sie in einer Notschlafstelle, wo die Folgen der Wirtschaftskrise deutlich zu spüren sind.
Die Frau mit dem schwarzen Stirnband, dem warmen Lächeln und dem Basler Dialekt heisst Meral Kaya. Die Schweizerin mit kurdischen Wurzeln ist Historikerin. Das Geschichtsstudium habe sie gewählt, «um die Gegenwart besser zu verstehen», sagt Kaya – und spielt dabei auch auf die eigene Familiengeschichte an. Ihre Lizarbeit hat sie zur Geschichte der Kurden in der zur Türkei gehörenden Provinz Dersim verfasst. Dort war ihr Vater, ein Lehrer, nach dem Militärputsch 1980 von Militärs eingesperrt und gefoltert worden. «Meine Grossmutter hat als Kind gar ein Massaker überlebt. Die erlebte Gewalt zieht sich durch meine Familiengeschichte», sagt Kaya.
Der Vater flüchtete nach seiner Haftentlassung in die Schweiz. Meral Kayas Mutter und ihre drei älteren Geschwister reisten später illegal nach. Die heute 29-jährige Kaya ist dann in der Schweiz geboren. Sie wuchs im baselländlichen Birsfelden auf.
Schon früh begriff sie, dass Entscheidungen, die in der Politik gefällt werden, einen konkreten Einfluss auf ihr Leben haben: «Ich begleitete meinen Vater häufig zur Fremdenpolizei. Und ich verstand als Kind nicht, wieso wir nicht in die Türkei reisen konnten», so Kaya.
Ihre eigene Politisierung hatte mit erlebter Diskriminierung zu tun: In der Primarschule wollte man sie mit allen ausländischen Kindern in einen Deutschkurs stecken - «obwohl ich gut Deutsch konnte». Später gab es Lehrer, die sagten, sie gehöre nicht ins Gymnasium - «obwohl ich den Notenschnitt hatte». Und die Polizei, die gehe härter vor, wenn sie es nicht mit Schweizer Jugendlichen zu tun habe, sagt Kaya, die als Teenagerin Teil der antirassistischen Bewegung in Basel wurde und sich auch für die globalisierungskritische Bewegung zu interessieren begann.
Heute interessiert Sie sich vor allem für Leute, die in der gesellschaftlichen Hierarchie weit unten sind – aus einem ausgeprägten Ungerechtigkeitsempfinden und aus Neugier den Menschen gegenüber. In Lausanne, wo Kaya seit vier Jahren wohnt, arbeitet sie in einer Notschlafstelle. «Platz hat es für 25 Leute, meistens stehen doppelt so viele vor Türe.» Die Wirtschaftskrise sei zu spüren, seit etwa zwei Jahren kämen immer mehr Leute, so dass jetzt ein Rotationsprinzip angewendet werde, damit alle mal drinnen schlafen können. «Sans-Papiers dürfen wir theoretisch keinen Schlafplatz anbieten – wir haben aber durchgesetzt, dass keine Ausweiskontrollen stattfinden», sagt Kaya.
Die Arbeit bei Sosf ist von anderer Natur: Meral Kaya hat bei den Vorbereitungen für die Asyldemo vom Juli mitgeholfen, schreibt fürs Bulletin, erledigt Korrespondenz und betreut die Homepage. Nach dem Praktikum will sie aber wieder auf die Strasse: In Basel hat sie sich bei der Anlaufstelle für Sexarbeiterinnen und Drogenabhängige beworben.
Dinu Gautier
Quelle: sosf-Bulletin 03/2012