Die Studentin Jacqueline Kalbermatter absolviert seit Juni bei Solidarité sans frontières ein Praktikum.
Jacqueline, Dein Praktikum bei uns ist bereits im letzten Drittel, parallel dazu hat wieder Dein Studium begonnen – was ist die grösste Differenz zwischen Studium und Deiner Arbeit hier?
Ich möchte lieber mit der Gemeinsamkeit anfangen. Für mich haben die wissenschaftliche Arbeit und das Engagement hier ein gemeinsames Ziel, dass sie etwas verändern wollen, indem sie Sachen aufdecken. Natürlich steht die Wissenschaft näher beim Aufdecken, im politischen Engagement geht es dann vorab darum, die Missstände direkt anzugehen.
Da hast Du aber ein heute etwas in den Hintergrund gedrängtes Bild einer engagierten Universität…
Tatsächlich zwingt das Bologna-System heute die Universität in ein enges strukturelles Korsett. Wer als WissenschaftlerIn den Anspruch hat, etwas zu verändern, hat es zunehmend schwerer. Ich verstehe bis heute nicht, wie die Universitäten sich dieses System überhaupt aufzwingen liessen. Heute muss man sich halt persönlich die Freiräume erkämpfen. So mache ich dieses Praktikum bei Solidarité sans frontières, obwohl dies im Gegensatz zu all den offiziellen Stimmen steht, welche die Studierenden dauernd zu einem möglichst raschen Studienabschluss ermahnen. Ich möchte dagegen am Schluss meines Studiums nicht völlig praxisfremd sein und ohne Erfahrung dastehen.
Immerhin hat man das Bologna System ja auch damit begründet, dass es die studentische Mobilität erleichtere, auch z.B. ein teilweises Studium im Ausland fördere… das würde doch auch eine Horizonterweiterung bringen?
In der jetzigen Umsetzung passiert allerdings das Gegenteil. Es findet wenig Austausch statt, es gibt eher mehr Zwänge statt universitärer Freiheit. Schon zwischen Bern und Fribourg ist die Koordination problematisch, das merke ich ganz persönlich, weil ich an beiden Unis Veranstaltungen belege.
Du hast anfangs eine Zusammenarbeit zwischen Universität und Engagierten postuliert und nun die verschulte Uni kritisiert – was müssten umgekehrt wir politisch Engagierten anders machen?
Es ist klar, dass einer besseren Zusammenarbeit auch Vorurteile von Seiten vieler Engagierter entgegenstehen, die denken, dass Wissenschaft nur ein Blabla sei, dass an der Uni nur geredet statt gehandelt würde. Aber das Wissen, die genaue Analyse, stellt uns auch wesentliche Ausgangspunkte für das Handeln zur Verfügung. Die Wissenschaft bestimmt auch sehr stark, was heute als „real“ gilt – darum können Gegenstrukturen nicht einfach gegen das Gegebene geschaffen werden, man muss sich den Freiraum für ein anderes Denken innerhalb der gegebenen Strukturen erkämpfen.
Gewissermassen parasitär?
Genau, nur so kommt man zum Ziel. Dann kann es auch gelingen, Wissen und Handeln zu verschränken. Die beiden Ebenen gehören zusammen, sie dürfen nicht einfach nebeneinander her laufen.
Aber damit kritisierst Du auch ein simples Wissenschaftsverständnis, das der Wissenschaft zubilligt, fern von den politischen Interessen die Wahrheit erzählen zu können!
Selbstverständlich ist die Wissenschaft nie völlig objektiv – aber sie ist auch nicht einfach beliebig und subjektiv. Die Wissenschaft trägt auch eine Verantwortung, indem sie mit darüber entscheidet, welche Themen relevant sind, und in welcher Weise sie verstanden und aufgegriffen werden. Zudem können wissenschaftliche Arbeiten auch Missstände aufdecken.
Wissen nicht die direkt Betroffenen, also zum Beispiel Sans-Papiers, sehr viel besser, mit welchen Missständen sie umgehen müssen, als ein paar Studierende, die eine Studie machen?
Einerseits haben Betroffene eine direkte Erfahrung, das stimmt. Wenn wir aber auf Einzelfälle reagieren, besteht die Gefahr, dass die Reaktion oberflächlich bleibt. Wir sollten aber auch hinter die Fassade schauen, Strukturen aufdecken, Zusammenhänge herstellen. Auch mit der Lösung vieler individueller Einzelprobleme sind die Strukturen noch nicht verändert. Ein Beispiel: Die Härtefallregelung kann im Einzelfall zwar durchaus sinnvoll sein, sie lenkt aber davon ab, dass die Schweizer Gesetze ständig neue Sans-Papiers schaffen. Wir brauchen die Analyse der Umstände, in denen wir leben. Marx sagt ja in einem schönen Zitat, dass der Mensch die Geschichte macht, aber "unter vorgegebenen Bedingungen".
Was wäre Dein Wunsch an Solidarité sans frontières?
Solidarité sans frontières sollte noch stärker MigrantInnen als Akteure ansehen, nicht nur als Opfer, ihre eigene Sichtweise noch stärker in die Arbeit einbeziehen, sie aktiv mitwirken lassen. Zum Schluss bitten wir Dich noch um einen Ratschlag. Die Mitglieder von Sosf werden immer älter, wir haben sehr wenig junge Mitglieder. Was sollen wir tun?
Solidarité sans frontières muss abkommen von der Idee, dass wir alles nette Menschen sind, die einfach helfen wollen. Ihr müsst noch stärker klar machen, dass es um strukturelle Voraussetzungen geht, gegen die man kämpfen muss. Also ein politisches Engagement, nicht bloss Mitleid, als wesentlicher Teil einer ganzen Bewegung die sagt „eine andere Welt ist möglich“. In gemeinsamen Aktionen und Gesprächen mit Betroffenen kann man gleichzeitig erleben, dass es nicht einfach um einen ideologischen Kampf geht sondern um ganz konkrete Probleme. Daraus entsteht dann eine Dringlichkeit, ein anderes Bewusstsein.
Aber hier liegt dann doch gleich wieder die Gefahr, in der Einzelfallarbeit zu „ertrinken“, statt auch den politischen Kampf aufzunehmen?
Es gilt das Bewusstsein zu vermitteln der Zusammenhänge zwischen realen Problemen im Einzelfall und deren strukturellen Voraussetzungen!
Was hast Du gelernt bei uns?
Etwas ganz Einfaches: dass es noch extrem viel Arbeit zu leisten gibt. Mit anpacken müssen wir dabei auch das Nachdenken darüber, wie wir eine anständige Migrationspolitik ausgestalten wollen und erreichen können!