2016, als die Schweizer Behörden illegale Zwangsabschiebungen nach Italien vornahmen, hat Lisa Bosia in Como blockierten Asylsuchenden aus Kriegsgebieten, insbesondere unbegleiteten Minderjährigen, deren Familien in der Schweiz oder in Deutschland leben, zum Grenzübertritt in den Tessin verholfen. Die jetzt verhängte Strafe auf Bewährung erscheint wie eine Anstiftung zum Nichtstun, zur Angst und nicht zum Mut, adressiert an andere BürgerInnen und Kantone, die sich mit den Flüchtlingen solidarisch zeigen. Sie liegt auf der Linie der aktuellen Nicht-Politik des Eidg. Justiz- und Polizeidepartements (EJPD). Sie zeugt vom Willen, das Asylrecht seines Sinnes zu entleeren, anstatt in der Verfassung die Grundrechte der Gastfreundschaft und des Asylrechts festzuschreiben. Das geschieht in einem Kontext von Kriegen, Unsicherheit, Abbau der Rechte, der öffentlichen Dienste für die gesamte Bevölkerung und von Härte bei der Aufnahme von schutzsuchenden Menschen.
Als Kantonsparlamentarierin (…) hat Lisa Bosia ihr Mandat mit Klarheit, Intelligenz und Bestimmtheit ausgeübt und sich dabei für das Gastrecht eingesetzt. Die Solidarität zur Wahrung dieses Rechts ist kein Vergehen, sondern ein staatsbürgerlicher Akt im Rahmen einer Politik des Friedens und des Rechts. Angesichts der Schutzsuche zum Überleben und aus den anderen Asylgründen, wie sie in der UNO-Flüchtlingskonvention von 1951 und im Schweizer Asylgesetz aufgelistet sind, ist die selbstlose Hilfe für Flüchtlinge kein Verbrechen, sondern ein Akt des Mutes und der Klarheit, die den Bürgersinn verfestigen. (…) Die Tat von Lucia Bosia ruft kollektive Erinnerungen wach an die verdienstvollen Handlungen des Beamten Paul Grüninger, der vom Schweizer Parlament rehabilitiert wurde, oder jener Tausender AktivistInnen in der Freiplatzaktion (zugunsten chilenischer Flüchtlinge) zu Zeiten des Staatsstreichs von General Pinochet in Chile. Dieses Urteil reiht sich ein neben jenem gegen Cédric Herrou in Frankreich und den Angriffen auf jene, die auf dem Meer oder an den Grenzen das Leben der Flüchtlinge verteidigen. Es geschieht in einem europäischen Kontext der Kriminalisierung der Solidarität und des Bürgersinns.
Europa, Schweiz und Asylrecht. Auffällig ist der Eifer des EJPD bei der zynischen Umsetzung des Dublin-Reglements. Es ist das Instrument einer verantwortungslosen Politik der „heissen Kartoffel“ (sich aus der Verantwortung stehlen) auf europäischer Ebene, die mit einer Aushöhlung des Asylrechts einhergeht. Dabei werden einzelne Kantone oder soziale Bewegungen sanktioniert und kriminalisiert. Die Schweiz erscheint so als eines der Länder, das die überholte, unmenschliche und gefährliche Dublin-Politik am härtesten anwendet. Die Schweiz hat zwar 1276 der im Rahmen der Verteilungsaktion der EU-Staaten versprochenen 1500 Personen relokalisiert, 828 aus Italien und 448 aus Griechenland, gleichzeitig aber aufgrund des Dublin-Reglements 1523 (2016) resp. 613 Personen (bis Ende Juli 2017) nach Italien ausgeschafft. Mit einer engstirnigen Mentalität und bürokratischen sowie polizeilichen Instrumenten schafft man nicht ein Europa des Friedens, des Gastrechts und der Solidarität unter BürgerInnen.
Europa, Schweiz und Arbeitsmarkt. Augenfällig ist die Deregulierung des Arbeitsmarkts, die die Konkurrenz unter den Arbeitenden anheizt und Hass und Fremdenhass schürt. Die Deregulierung leistet der Schwarzarbeit, den Schleppern und Ausbeutern Vorschub. Mit einem wildwachsenden Arbeitsmarkt, einer ungerechten Konkurrenz, einem Abbau der Rechte auf Kosten der Solidarität, alles Bürgen der Stabilität, schafft man nicht allgemeine Arbeitnehmerrechte.
Europa, Schweiz und internationales Recht. Augenfällig ist die Fortdauer einer Aussenpolitik, die immer noch den imperialen und kolonialen Mustern gehorcht und weiterhin Ressourcen plündert und Arbeitnehmende übermässig ausbeutet. Das zwingt Millionen junger Menschen in die Migration, verbunden mit grössten Gefahren. Die Bewegungsfreiheit ist nicht gleichbedeutend mit der Freizügigkeit des Kapitals, der Waren oder der Arbeitskraft. Die Bewegungsfreiheit ist ein Grundrecht eines jeden Menschen. Sie bedeutet nicht nur, dass man sein Land verlassen kann, wie es die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) festschreibt, sondern auch, dass man Gastrecht, Wissen und Erleben mit anderen Menschen teilen kann. Indem man den Rest der Welt ausplündert, Kriege anzettelt und ohne Rücksicht auf eine nachhaltige Entwicklung des Planeten handelt, schafft man keine Aussenpolitik.
• Die Pflicht zur Gastfreundschaft und zur Solidarität ist eine grundlegende Komponente der Zukunft Europas und der Schweiz.
• Wir erklären und solidarisch mit den Handlungen von Lisa Bosia, die das Urteil ans Tessiner Obergericht weiterzieht und, wenn nötig, bis an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
• Wir erklären und solidarisch mit Flüchtenden, die in einer Situation von Gefahr und Überleben den Schutz Europas und der Schweiz suchen.
• Wir verlangen die Hinterfragung von Artikel 116 des Ausländergesetzes, welcher die Solidarität unter Straftatbestand stellt.
• Wir verurteilen die Verletzungen der Bewegungsfreiheit gegenüber den Flüchtlingen und Personen mit instabilem oder irregulärem Aufenthaltsstatus (Halbgefangenschaft, Ein- und Ausgrenzungen, Administrativhaft).
Wir rufen alle verantwortungsbewussten Personen und Organisationen dazu auf, sich dieser Verurteilung anzuschliessen und Solidarität, Mut und Gastfreundschaft vorzuleben.