Trotz seiner Unterschiede ist der Ausländer ein Mensch wie ich. Er ist es, der zu uns kommt und mit dem ich zum gesellschaftlichen Leben bestimmt bin oder dem ich begegne, wenn ich mich in sein Heimatland begebe. Spricht er meine Sprache nicht oder schlecht, so muss die Kommunikation durch Gesten stattfinden, was sie sehr beschränkt macht. Ich beobachte ihn dann und er bringt mir fast immer viel, wenn ich mit Interesse auf ihn achte. Das Lächeln auf seinem Gesicht ist oft hoch ausdruckvoll und manchmal wertvoller als Worte. Gelingt es mir, dies hervorzurufen, so werde ich in der Regel belohnt.
Ich brauche die Ausländer, bei uns und in ihren Heimatländern. Sie ermöglichen es mir, mich als Weltbürger und Humanist zu fühlen. Diese Haltung stellt ein wesentliches Element in meinem per-sönlichen moralischen System dar. Ich bin nicht stolz, Schweizer zu sein, obschon ich zugebe, dass mir dieses Land sehr grosse Privilegien bietet. Mein Geburtsort ist aber reiner Zufall und es hätte irgendwo anders liegen können. Dieses Glauben erklärt mein Zugehörigkeitsgefühl zur Welt des Ausländers, meine Entschlossenheit, seinen Wert anzuerkennen und meine Neigung, ihn zu mö-gen.
Migration ist generell durch ein lebensnotwendiges Bedürfnis nach Zuflucht und/oder Arbeit aus-gelöst, da das Heimatland dies nicht bietet. Die grosse Mehrheit der Migranten ist mutig und sucht, den nicht ertragbaren Verhältnissen zu entfliehen. Solche Entscheidungen werden nicht leichtfertig getroffen, sondern verlangen oft sehr grosse Opfer. In der Schweiz sind diese Menschen manch-mal mit ihrer hiesigen Lage zufrieden, obwohl sie bei uns keinen beneidenswerten Status erhalten. Wenige Schweizer träumen von einem Asylzentrum oder einem Barackenlager für Saisonarbeiter. Ich persönlich suche eine andere Freiheit! In Italien bin ich trotzdem mehrmals ehemaligen Saison-niers begegnet. Sie sagten mir, sie hätten eine sehr gute Erinnerung von ihrem Aufenthalt und ih-rer Arbeit in der Schweiz und seien unserem Land sehr dankbar und voll Bewunderung für den Empfang, den sie bei uns erhalten haben.
Ich privilegiere, wenn möglich, die individuellen Kontakte, weil ich sie für konstruktiver halte als das Treffen in einer Gruppe. Nur ein Austausch zu zwei kann intensiv sein und ein tiefes gegenseitiges persönliches Kennenlernen ermöglichen. Bei solchen Begegnungen mache ich aber keinen grund-sätzlichen Unterschied, ob mein Gesprächspartner ein Einheimischer oder ein Ausländer ist. Viel-leicht wird jedoch mein Interesse für den anderen mit seinen Besonderheiten mehr angeregt, wenn er Ausländer ist. Dies ermuntert mich, seine Eigenschaften verstehen zu wollen, die aus sei-nem Wesen oder seinem nationalen Hintergrund und seinen persönlichen, familiären oder sozialen Erlebnissen stammen.
Es gibt auch Schweizer, die ich eher wie Ausländer aus einem fremden Land betrachte. Ich denke vor allem an diejenigen, deren Mundart ich nicht verstehe. Trotz gemeinsamer Nationalität, fühle ich mich ihnen nicht näher als Bürgern aus anderen westeuropäischen Ländern. Vielleicht schätze ich auch mehr die sprachliche Zusammengehörigkeit als die nationale Gemeinschaft. Auf jeden Fall ist das Kriterium der Staatsbürgerschaft keineswegs entscheidend für meine Sympathie zu dem anderen.
Olivier von Allmen