In der Nacht zum letzten Sonntag im alten Jahr habe ich das Bundesgerichtsurteil in meinem Strafverfahren erhalten. Ich blätterte wie immer gleich zur letzten Seite. Beschwerde abgelehnt. Ich las die Begründung. Ich sei zu links, hiess es. Zu Unrecht, dachte ich beim Erwachen. Ich bin noch viel schlimmer.
Die hiesige Migrationspolitik, das Ausländergesetz, beruhen auf der Optik, dass die Schweiz nur beschränkt mittellose Migrant*innen aufnehmen kann. Dass ihre Aufnahmekapazität die Limite bereits erreicht habe. Jede*r, der komme, sei einer zu viel.
Seit 35 Jahren unterhalte ich mich am liebsten mit migrationserfahrenen Menschen, seit 14 Jahren mit solchen im Ausschaffungsgefängnis. Ich mag es, ihren Geschichten zuzuhören. Sie enthalten alle, ob erfunden oder nicht, für mich wesentliche Erkenntnisse. So verschieden auch die Zuwandernden sind, ihre Optik fesselt mich und ist der ausländerrechtlichen und migrationspolitischen diametral entgegengesetzt: Zu wenig Ressource und Perspektiven zu Hause. Es gibt dort kein Überleben in Würde.
Die Optik der Satten ist mir suspekt. Die Satten erwarten, dass die Zugewanderten sich mit ihrer Perspektivlosigkeit abfinden und falls sie hier bleiben, unsere Optik der Satten richtig finden. Sie sollen unsere Werte übernehmen. Die weg gewiesenen Perspektivlosen versucht man mit noch mehr Perspektivlosigkeit zu verjagen. Eine Nacht nach meinem Urteilstraum hat sich S.T., ein Algerier, im Basler Gefängnis still davon gemacht: Er hat sich das Leben genommen.
Die heutige Zwangsmigration ist eine der neuen Formen der alten Versklavung. Auf der einen Seite die Überheblichen, auf der anderen Seite die in Armut gehaltenen Andern. Diese haben sich den Ansprüchen der Ersteren anzupassen. Im besten Falle lässt man ihnen ein paar Wohltaten im Herkunftsland zufallen und freut sich über ihre Dankbarkeit. Aber wehe, wenn sie hierher kommen und selber Ansprüche stellen, teihaben wollen an unserem Wohlstand und den Angehörigen zu Hause mit Geldüberweisungen ein Leben in Würde ermöglichen möchten! Eine selbstbestimmte Hoffnung auf ein besseres Leben steht ihnen nicht zu.
Die Optik und die Selbstverständlichkeiten der Überheblichen, lieber Richter meines Traumes, behagt mir nicht mehr. Ist es denn illegal, ein Leben in Würde für alle Menschen anzustreben, selbst wenn die Satten auf Überfluss verzichten müssen? Wenn sie die lukrativen Waffengeschäfte, den profitablen Ressourcenhandel und die abgezweigten Steuereinnahmen aufgeben und dadurch den Staatshaushalt einschränken müssten? Wenn das Aufbegehren der verarmten Bevölkerung dort als ein wichtiges Signal für eine Umverteilung der Ressourcen hier zu nehmen wäre? Wie im Kampf gegen die Klimaerwärmung, die, ungebremst, zuerst den Armen, dann aber allen Menschen den Besitzstand rauben wird. Es geht in beiden Fragen um eine menschenwürdige Perspektive der jüngeren und kommenden Generationen in der ganzen Welt.
Anni Lanz, Aktivistin des Solinetzes Basel, wurde vom walliser Obergericht wegen Förderung der rechtswidrigen Einreise verurteilt.