Was ist aus juristischer Sicht das «Vergehen aus Solidarität»?
Im Völkerrecht gibt es das «Vergehen aus Solidarität» eigentlich nicht. Das ist ein Begriff, der von der frankophonen Rechtslehre und der Zivilgesellschaft benutzt wird. Auf rechtlicher Ebene reden wir von Hilfeleistung für irreguläre Migrant*innen. Jenseits des Juristischen macht der Begriff «Vergehen aus Solidarität» aber klar, worum es hier geht. Der Missbrauch, den die Staaten mit den Normen über die Schleusung von Migrant*innen betreiben, hat dazu geführt, dass man von «Vergehen aus Solidarität» spricht, wenn der Staat Handlungen bestraft, die aus Solidarität und eben gerade nicht aus finanziellen Motiven begangen werden. Das Migrationsstrafrecht hat hier eine pervertierte Wirkung entfaltet, die zu Beginn der Diskussionen über die illegale Schlepperei nicht gesucht war.
Wann hat das «Vergehen aus Solidarität» Eingang in die europäischen Gesetzgebungen gefunden?
Wie lief das ab? 2002 wurden in Palermo (Italien) mehrere Zusatzprotokolle zum Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität verabschiedet. Dem Protokoll über den Menschenhandel folgte jenes über die Schleusung von Migranten, das die Hilfe zu irregulärer Einreise und irregulärem Aufenthalt unter Strafe stellen will, wenn sie mit der Absicht eines finanziellen oder materiellen Gewinns geleistet wird. Zur Erinnerung: In den neunziger Jahren kamen viele Flüchtlinge vom Balkan. Die Zeit ist deutlich geprägt von der sehr negativ besetzten Diskussion über die Immigration in Europa und der Einführung von restriktiven Gesetzen. Wenige Monate später wurde das Protokoll gegen die Schleusung von Migranten in eine EURichtlinie übernommen. Das ging überraschend schnell, was auf einen starken politischen Willen schliessen lässt. Aber die Absicht eines finanziellen oder materiellen Gewinns ist kurioserweise etwas auf der Strecke geblieben. Die Beihilfe zum irregulären Aufenthalt wird zwar erst mit dieser Bereicherungsabsicht zum Vergehen. Bei der Beihilfe zur irregulären Einreise fehlt diese Einschränkung jedoch. Unmittelbar nach Verabschiedung dieser Richtlinie haben mehrere EU-Staaten sie in ihre nationale Gesetzgebung umgesetzt. Die Richtlinie lässt den Mitgliedstaaten zwar die Option, humanitäre Handlungen von der Strafverfolgung auszunehmen, aber nur wenige Staaten haben diese Ausschlussklausel genutzt. Man muss wissen, dass die Leute, die strafrechtliche Normen formulieren, in erster Linie an die Effizienz des Verfahrens denken und nicht an die negativen Auswirkungen, die eine Norm haben könnte. Im Allgemeinen legen die Staaten strafrechtliche Normen sehr eng aus. Hier nun ist genau das Gegenteil geschehen. Aus meiner Sicht hätte das Protokoll nur die organisierte Kriminalität verurteilen sollen und nicht individuelle Handlungen.
Haben die nationalen Gesetze also den Sinn des Protokolls – die Bekämpfung der organisierten Kriminalität – aus den Augen verloren?
Problematisch ist, dass alles auf die Kriminalisierung der Immigration fokussiert und daher auf die Beihilfe zur Immigration. Die politische Situation war damals so, dass das Protokoll gegenüber seinem primären Ziel pervertiert und politisch für die Migrationspolitik verwendet wurde. Bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität hat dieser gesetzliche Rahmen bis heute kaum Erfolge gezeitigt. Ich habe hie und da von ein paar Ermittlungsverfahren gehört, aber eigentlich nie von der Verurteilung einer Gruppe. In den meisten Fällen handelt es sich um Prozesse gegen Einzelpersonen. Wenn die Leute systematisch Rekurse einlegen, enden Verfahren gegen Mitglieder der Zivilgesellschaft oder gegen Personen, die in solidarischer Absicht gehandelt haben, nur selten in Verurteilungen.
Man muss sich aber einen Rekurs erst mal leisten können.
In der Tat, es gibt Leute, die das nicht tun, weil das sehr viel kostet.
Was sind die Auswirkungen der Kriminalisierung der Solidarität?
Es hat zuerst einmal strafrechtliche Konsequenzen für die einzelne Person. Es ist eine enorme Belastung, wenn man mit einer derartigen Anschuldigung konfrontiert wird. Ich habe einen Bericht über eine Journalistin der Zeitung «Le Temps» gelesen, die festgenommen und gleich wieder freigelassen wurde. Die juristische Begründung für ihre Festnahme war, dass sie Leute über das Asylverfahren informiert hatte. Hier sieht man wirklich die Pervertierung der ursprünglichen Idee: Inwiefern trägt eine derartige Festnahme zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität bei? Die Politiker sprechen oft von «kriminellen Netzwerken», die die Migrant*innen auf den Weg nach Europa bringen, sie dabei aber schamlos ausbeuten. Das gibt es, das kann man nicht leugnen. Und wenn die Staaten dagegen vorgehen wollen, so ist das für mich kein Problem. Aber wenn man das gleiche strafrechtliche Instrumentarium auch gegen jene richtet, die allein, oder von mir aus auch als Gruppe, mit einem solidarischen Ziel handeln, so hat das zuallererst den negativen Effekt, dass dem tatsächlichen Kampf gegen das organisierte Verbrechen Mittel entzogen werden. Warum schiesst man sich auf die solidarischen Menschen ein und nicht auf die kriminellen? Man muss sehen, dass die Solidarität Mängel des Staates ausbügelt. Dieser hat Pflichten, die über das Strafrecht hinausgehen. Er muss die Grundrechte aller Menschen garantieren, die auf seinem Territorium leben – das Recht auf Bildung, das Recht auf angemessene medizinische Versorgung oder das Recht auf Nahrung. Es gibt nicht nur das Recht auf einen fairen Prozess, sondern auch die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Rechte. Das gilt auch für Migrant*innen, Asylsuchende, für Personen mit oder ohne regulären Aufenthaltsstatus. Selbstverständlich gibt es Leute, die nicht einreisen oder sich im Land aufhalten dürfen, aber um das zu bestimmen, gibt es Verfahren, bei denen die Grundrechte eingehalten werden müssen. Das reine Zurückschicken an der Grenze ist Rechtsmissbrauch. So kommt es, dass die Zivilgesellschaft den Mängeln des Staates abhelfen muss, weil die Politik entschieden hat, die Grundrechte nicht zu beachten. Die Kriminalisierung der uneigennützigen Hilfe soll zudem andere Menschen davon abhalten, sich solidarisch zu zeigen.
In seinem Vorentwurf für eine Revision des Ausländer- und Integrationgesetzes (AIG) vom Dezember 2019 schlägt das EJPD vor, den Titel von Artikel 116 folgendermassen abzuändern: «Menschenschmuggel und andere Formen der Förderung der rechtswidrigen Ein-und Ausreise und des rechtswidrigen Aufenthalts sowie Förderung der Erwerbstätigkeit ohne Bewilligung». Was halten Sie von der Aufnahme dieser Terminologie ins Gesetz?
Es ist klar, dass sich der Menschenschmuggel nicht auf eine «Förderung» reduzieren lässt. Indem man aber von «Menschenschmuggel und anderen Formen» spricht, erweckt man den Eindruck, beim Menschenschmuggel handle sich um eine Förderung der illegalen Einreise, aber das ist Unsinn. «Menschenschmuggel» ist auch gar nicht definiert. Im Titel des UNOProtokolls taucht der Begriff der Schleusung auf, der den Rahmen definiert und einen Bezug zum Inhalt herstellt.
Auf welchem Weg könnte die gegenwärtige Lage verändert werden?
An erster Stelle steht selbstverständlich eine Reform durch das Parlament. Zweitens – und das ist eine riesige Herausforderung – muss man strafrechtlich viel härter gegen die Schlepperbanden vorgehen, die mit dem Menschenschmuggel enorme Gewinne machen. Dafür müsste man eigentlich ein gemeinsames strafrechtliches System mit Ländern wie Libyen, Tschad und Nigeria auf die Beine stellen. Das ist aber nicht möglich, da es sich dabei um gescheiterte Staaten handelt, in denen der Schutz der Menschenrechte nicht garantiert ist. Diese Länder müssten legitime Rechtssysteme haben, damit die erhobenen Beweise auch in Europa Gültigkeit hätten. Das würde sehr viel Arbeit für das EDA und das EJPD bedeuten. Es würde nicht genügen, einen Vertrag abzuschliessen und zu sagen «wir arbeiten jetzt zusammen». Es ist die Umsetzung, die zählt. Die Kooperation im Bereich der Migration benötigt zumindest die Absicht, einheitliche und harmonisierte Standards beim Respekt der Menschenrechte zu schaffen. Drittens könnte die Interpretation des Rechts viel zur Veränderung beitragen. Ich denke, dass es in der Schweiz tatsächlich möglich ist, eine mit dem Völkerrecht konforme Interpretation zu erreichen, da die Gerichte gehalten sind, sowohl dem internationalen als auch dem nationalen Recht Rechnung zu tragen. Es gibt eine Rechtsprechung, die den Vorrang der Menschenrechte anerkennt. Die Richter müssten sich nach dem engeren Sinn des UNOProtokolls ausrichten und das Kriterium der finanziellen und materiellen Motive verstärkt berücksichtigen. Hier könnte das Bundesgericht eine Menge tun.
Ariane Tripet
Ein juristischer Blick auf das «Vergehen aus Solidarität»
Wie und warum gelangte das «Vergehen aus Solidarität» in die Gesetze? Und welche Möglichkeiten der Veränderungen gibt es? Antworten des Völkerrechtlers Massimo Frigo. Er ist Experte für EU- und Migrationsrecht und arbeitet für die Internationale Juristenkommission (ICJ).
Dieses Interview ist im Bulletin 01/2020 von Solidarité sans frontières zu finden.
Dieses Interview ist im Bulletin 01/2020 von Solidarité sans frontières zu finden.