Die Covid-19-Krise als Vorwand : Unterlassene Hilfeleistung im zentralen Mittelmeerraum wird zur Norm
Die Covid-19-Pandemie hat es den Staaten ermöglicht, Sofortmassnahmen zu ergreifen, die das Recht auf Bewegungsfreiheit in und ausserhalb Europas einschränken. Während gewisse Massnahmen gerechtfertigt erscheinen, um die Ausbreitung des gefährlichen Virus einzudämmen, haben die europäischen Behörden diese Gesundheitskrise genutzt, um die bereits bestehende Praxis der unterlassenen Hilfeleistung auf See zu normalisieren. Im zentralen Mittelmeer sind die Folgen dieser Massnahmen, die in Namen der „Rettung von Menschenleben“ ergriffen worden sind, verheerend. Sie bewirken das Gegenteil: Die Menschen, die sich in Seenot befinden, sind ersthaft gefährdet zu sterben. Unter dem Deckmantel der Gesundheitskrise betreiben die europäischen Behörden eine rassistische Grenzsicherungspolitik, die die Überfahrt auf dem Meer noch gefährlicher und tödlicher macht.
Über 1’000 Menschen versuchen innerhalb einer Woche aus Libyen zu fliehen
In nur einer Woche (5. bis 11. April 2020) haben über 1’000 Menschen auf mehr als 20 Booten die libysche Küste verlassen. Das Alarm Phone wurde von insgesamt 10 Boote kontaktiert. Zwei von diesen Booten konnten am 6. April von Alan Kurdi gerettet werden. Über 500 Menschen sollen innerhalb von nur drei Tagen nach Libyen zurückgebracht worden sein. Einige der Überlebenden haben uns mitgeteilt, dass sechs Menschen ertrunken sind. Viele der Zurückgekehrten wurden auf einem Schiff im Hafen von Tripolis gefangen gehalten. Darüber hinaus bleibt das Schicksal einiger Boote unklar. Gleichzeitig haben wir auch von mehreren anderen Booten erfahren, die Italien selbstständig erreicht haben, dass sie in Lampedusa, Sizilien, Linosa und Pantelleria angekommen sind.
Zum jetzigen Zeitpunkt, im Moment, wo wir diesen Artikel schreiben (11. April, 14.30 Uhr), befinden sich vier Boote noch immer in schwerer Seenot. Die maltesischen Streitkräfte weigern sich, ein Boot, dass sich in der maltesische Such- und Rettungszone (SAR) befindet, zu retten. Die Menschen an Bord schreiben uns: "Die Menschen sind ohne Wasser, die schwangere Frau ist so müde, das Kind weint, es ist durstig. Bitte, wenn Sie uns nicht retten wollen, geben Sie uns wenigstens Wasser.“
Eine tödliche Rettungslücke schaffen
Im zentralen Mittelmeerraum wird aktiv eine gefährliche Rettungslücke geschaffen. Europäische Küstenwachen und Marinen sowie die so genannte libysche Küstenwache erklären, dass sie sich nicht an SAR-Aktivitäten beteiligen werden. Das Rettungsschiffs Alan Kurdi, konnte in der gegenwärtigen Schönwetterperiode zwei Boote retten. Da jedoch 150 Personen an Bord sind, suchen sie momentan einen sicheren Hafen und können keine weiteren Einsätze durchführen. Alle anderen Rettungs-NGOs sind nicht berechtigt oder nicht in der Lage, SAR-Einsätze durchzuführen.
Für Alarm Phone ist die größte Herausforderung der systematische Rückzug der europäischen Behörden aus dem zentralen Mittelmeerraum. Wir haben mehrere skandalöse Verzögerungen und sogar Sabotageakte auf See dokumentiert. Eines der Boote, dass sich an uns gewandt hat, wurde von den italienischen Behörden erst dann nach Lampedusa gerettet, nachdem es die maltesische SAR-Zone vollständig durchquert hatte, wobei sich die maltesischen Streitkräfte weigerten, einzugreifen. Ein weiteres bereits in der maltesischen SAR-Zone befindliches Boot mit 66 Personen an Bord wurde erst nach etwa 40 Stunden gerettet. Die Menschen an Bord teilten uns mit, dass die maltesischen Streitkräfte versuchten, das Kabel des Motors durchzuschneiden, begleitet mit den Worten: "Ich überlasse euch dem Tod im Wasser. Niemand wird nach Malta kommen."
In allen Fällen von Seenot, die das Notruftelefon erreicht haben, haben wir das unverantwortliche Verhalten der europäischen Behörden erlebt. Routinemäßig legen die so genannten "Rescue Coordination Centres" auf, weigern sich, neue Informationen aufzunehmen, oder sind stundenlang nicht erreichbar.
"Libyen ist schlimmer als der Corona-Virus"
Wir rufen alle europäischen Behörden auf, das Leben der Menschen, die versuchen Folter, Vergewaltigung und Krieg in Libyen zu entkommen, nicht länger zu gefährden. Trotz der Covid-19-Krise ist Europa im Vergleich zu Libyen immer noch sicher und verfügt über die Ressourcen, um lebenswichtige SAR-Operationen durchzuführen. Menschen, die versuchen aus Libyen zu fliehen, sind sich der Gefahr der Überquerung des Meeres und der Ausbreitung des Covid-19 innerhalb Europas bewusst. Dennoch, so sagen sie uns: "Libyen ist schlimmer als der Corona-Virus."
Alarm Phone , 11/04/2020