Ausschaffungsinitiative: Die Umsetzung des Unmöglichen
Bis hierhin und nicht weiter!
Erinnern wir uns: Am 28. November 2010 nahm die Schweizer Stimmbevölkerung die SVP-Ausschaffungsinitiative mit 52.9 Prozent an. Der damals vor allem von der bürgerlichen «Mitte» portierte Gegenvorschlag erlitt mit 45.8 Prozent Schiffbruch. Am 23. Mai 2012 gab der Bundesrat zwei Varianten zur Umsetzung der Initiative in die Vernehmlassung. Die eine orientierte sich wortgetreu am Text der Initiative. Die andere – vom Bundesrat befürwortet – sah die Landesverweisung im Regelfall ab einer Strafe von sechs Monaten Haft vor, versprach aber immerhin noch eine Einzelfallprüfung. Sosf lehnte beide Varianten ab, weil sie das Verhältnismässigkeitsprinzip entweder offensichtlich oder halbwegs versteckt zu Grabe tragen. Die SVP jedoch witterte eine «Verschleppung» des Gesetzgebungsprozesses und lancierte, um noch mehr Druck auszuüben, im Juli 2012 ihre «Durchsetzungsinitiative», die sie ein halbes Jahr später mit rund 155 000 Unterschriften einreichte.
Verfassungspolitisches Schlachtfest
Am 23. Juni 2013 publizierte der Bundesrat seine Botschaft zur
Umsetzung der Ausschaffungsinitiative, die sich im Wesentlichen an der
von ihm bereits im Vernehmlassungsverfahren propagierten «milderen»
Variante orientierte. Er nahm damit Rücksicht auf Minimalia des
Völkerrechts und gab ein Lippenbekenntnis zum
Verhältnismässigkeitsprinzip ab. Anfang 2014 begann die staatspolitische
Kommission des Nationalrates (SPK-N) mit der Beratung des Geschäfts, in
die sie die Durchsetzungsinitiative gleich mit einbezog. Am 14.
Februar, fünf Tage nach Annahme der SVP-Masseneinwanderungsinitiative,
empfahl die Kommission dann mit 14 zu 8 Stimmen eine Umsetzung der
Ausschaffungsinitiative gemäss dem Text der Durchsetzungsinitiative.
Der
Nationalrat folgte am 20. März 2014 den Empfehlungen seiner SPK mit 104
zu 71 Stimmen. Damit hatte die erste der beiden Kammern des
eidgenössischen Parlaments grünes Licht dafür gegeben, das
Verhältnismässigkeitsprinzip, bisher ein tragender Grundsatz
bürgerlich-demokratischer Verfassungen, abzuschaffen – jedenfalls, wenn
es um den Umgang mit jenem Fünftel der Bevölkerung geht, das nicht den
roten Pass besitzt. Die zweite Kammer, der Ständerat, wird in der
Sommersession erstmals darüber befinden müssen. Seine staatspolitische
Kommission (SPK-S) tagte am 20. Mai, sieben Tage nach Redaktionsschluss
dieses Bulletins. Die kleine Kammer hat also die Möglichkeit, nein sogar
die Pflicht, das vom Nationalrat begonnene Schlachtfest zu stoppen.
Erinnern wir uns deshalb nochmals: Der Weg in die Misere hat
nicht heute, sondern schon vor fünf Jahren begonnen. Statt offen und
deutlich Widerstand gegen die Ausschaffungsinitiative zu leisten,
verkrümmte sich ein Grossteil der Schweizer Politlandschaft - von der
bürgerlichen Mitte über Teile der SP bis hin zur Schweizerischen
Flüchtlingshilfe SFH - aus Angst vor der SVP bis zur Unkenntlichkeit.
Das Ergebnis war Apeasementpolitik in erbärmlichster Form: die
Entwicklung und Unterstützung des halbgaren Gegenvorschlages, mit dem
man gleichzeitig das «Anliegen» der SVP für «berechtigt» erklärte und
die Annahme der Initiative vorprogrammierte. Heute, fünf Jahre später,
ist es an der Zeit, endlich Tacheles zu reden: «Bis hierhin und nicht
weiter!».
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Weitere Analysen finden Sie im Artikel «Der Pakt mit dem Teufel»
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Mögliche Szenarien zur Umsetzung finden Sie im folgenden Paper (PDF, 4 S.)
Weitere Links
- Die Umsetzung der Ausschaffungsinitiative im Parlament
- Factsheet Arbeitsgruppe «Dialog EMRK» zur Umsetzung der Ausschaffungsinitiative
- «Verantwortung für Grundrechte» von Balthasar Glättli, NR Grüne (NZZ, 17.3.2014)
- «Rechtsstaat in der Defensive» von Kurt Fluri, NR FDP (NZZ, 17.3.2014)
- Medienmitteilung von SOSF zum Entscheid der SPK-N vom 14.2.2014
- Weitere Infos auf humanrights.ch