Heute werden drei Datenbanken im Schengenraum betrieben: Das Schengen Informationssystem (SIS), eine Art Register, das sicherheits- oder migrationsbezogene Informationen über Personen und Objekte enthält. Das Visum Informationssystem (VIS) speichert Daten von allen Personen, die einen Visumsantrag im Schengenraum stellen. In Eurodac schliesslich, sind Fingerabdrücke von Personen gespeichert, die einen Asylantrag im Schengenraum stellen und solchen, die irregulär eine Schengen Aussengrenze passieren. Verwaltet werden diese Systeme von eu-LISA, einer Agentur mit Hauptsitz in Tallin.
Die Schengen-Staaten sind derzeit dabei, drei weitere Datenbanken einzuführen: Das Entry/Exit-System (EES) berechnet, wann der rechtmässige Aufenthalt von Reisenden in Europa endet und löst dann einen Alarm aus. Mit dem European Travel Information and Authorisation System (ETIAS) werden Einreisegenehmigungen in den Schengenraum für visumsbefreite Reisende etabliert. Und das European Criminal Records Information System on third-country nationals and stateless persons (ECRIS-TCN), ist eine Datenbank für Strafregistereinträge von Drittstaatenangehörigen und staatenlosen Personen. All diese Datenbanken speichern biographische und teilweise biometrische Daten. Abgerundet wird diese Entwicklung durch die sogenannte Interoperabilität, d.h. die Vernetzung der sechs Datenbanken sodass diese «miteinander kommunizieren».
Im Zuge dieser Erweiterungen werden auch die «alten» Datenbanken ausgebaut. So soll ein Algorithmus sichtbar machen, welche im VIS gespeichert Personen ein Sicherheitsrisiko für den Schengenraum darstellen. Das Europäische Polizeiamt (Europol) soll erweiterte Zugriffsrechte erhalten und etwa im SIS selber verdächtige Personen markieren und ausschreiben können. Eurodac schliesslich, soll zu einer Datenbank ausgebaut werden, die nicht nur Fingerabdrücke speichert, sondern umfassende biografische Daten von Personen sowie Gesichtsbilder und Reisedokumente. Bereits Kinder ab 6 Jahren sollen registriert werden. Nicht alle diese Änderungen sind bereits rechtskräftig. Der Gesetzgebungsprozess zu Eurodac etwa steckt fest, wobei nun Anfang Jahr etwas Bewegung in die Sache gekommen ist. So oder so: Es steht ein massiver Ausbau der Datenbanken an.
Die Erweiterung der europäischen Migrationsdatenbanken endet aber nicht an den Schengen-Aussengrenzen. Die EU ist bemüht, die Digitalisierung in den angrenzenden Ländern des Schengenraums voranzutreiben und diese EU-kompatibel zu machen. In den benachbarten Balkanstaaten etwa, wird seit einigen Jahren viel Geld investiert, um den Austausch von Daten zwischen Strafverfolgungs- und Migrationsbehörden zu intensivieren und vereinfachen. Fingerabdrucksysteme, sogenannte AFIS (automated fingerprint identification system), die Daten so erfassen, dass sie Eurodac-kompatibel sind, werden eingeführt. Daran beteiligt sich auch die Schweiz, zum Beispiel in Bosnien, wo die Schweiz zwischen 2017 und 2019 1.2 Millionen Franken in den Ausbau der digitalen Migrationskontrolle investierte. Das Geld floss in die Einführung eines Migrant Information System (MIS), welches explizit die Interoperabilität mit anderen Informationssystemen ausserhalb von Bosnien zum Ziel hatte. Ähnliche Bemühungen fanden unter Schirmherrschaft der EU in Albanien statt. Auch dort wird derzeit eine Eurodac-kompatible Migrationsdatenbank entwickelt – unter Federführung von Frontex. Beamt:innen die in Albanien im Frontex-Einsatz sind, hätten dann Zugang zu beiden Systemen, dem Eurodac und der lokalen Datenbank. Die überregionalen Bemühungen dazu wurden unter dem Stichwort Balkandac zusammengefasst. In den Balkanstaaten an den Eurodac und andere EU-Systeme angelehnte Migrationsdatenbanken zu etablieren dient nur einem Ziel: der langfristigen weiteren Auslagerung der EU-Aussengrenzen.
Ein wichtiger Aspekt dieser Ausbauprojekte ist die mittlerweile unauflösliche Verquickung von Migrations- und Sicherheitsfragen. Die Bekämpfung von Terrorismus und «illegaler» Migration nach und in Europa werden als Zweck in praktisch allen gesetzlichen Grundlagen genannt – obgleich es sich bei den meisten Datenbanken eigentlich um klassische Migrationsdatenbanken handelt.
Die Schweiz macht mit
Die Schweiz zieht bei diesen Entwicklungen mit. Als Schengen-Staat wird sie Daten in die neuen Datenbanken einspeisen und darauf zugreifen können. Und bezüglich Nähe zwischen Polizei- und Migrationsbehörden hat die Schweiz nun einen weiteren, wichtigen Schritt gemacht. Der Bund hat im Oktober 2021 ein Abkommen mit der EU geschlossen zur Beteiligung der Schweiz am Prümer-Abkommen, das ein System zum Austausch von strafverfolgungsrechtlich relevanten Daten begründet hat. Im gleichen Zug wurde eine Vereinbarung geschlossen, die den Zugang von Strafverfolgungsbehörden auf Daten in der Eurodac-Datenbank ermöglicht.
Spätestens Ende 2024 sollen Strafverfolgungsbehörden «zur Verhütung, Aufdeckung oder Ermittlung terroristischer oder sonstiger schwerer Straftaten» einen Abgleich von Fingerabdrücken mit der Eurodac Datenbank vornehmen können. Dazu werden das fedpol, der Nachrichtendienst des Bundes, die Bundesanwaltschaft, die kantonalen Polizei- und Strafverfolgungsbehörde und die Polizeibehörden der Städte Zürich, Winterthur, Lausanne, Chiasso und Lugano befugt sein.
Dabei ist anzumerken, dass es nicht so ist, dass heute Strafverfolgungsbehörden keinen Zugriff auf migrationsrechtliche Daten hätten. Nationale Migrationsdatenbanken (AFIS, Zentrales Migrationsinformationssystem) speichern Fingerabdrücke, Fotografien, Unterschriften und eine Vielzahl von biographischen Daten von Personen die unter das Asyl- oder Ausländergesetz fallen. Darauf haben Strafverfolgungsbehörden Zugriff. Neu ist aber, dass die Schweizerischen Strafverfolgungsbehörden mit dem Zugang zu Eurodac, auch Daten von allen Personen, die nicht in der Schweiz als Asylsuchende registriert wurden, abfragen können und umgekehrt, europäische Behörden die Daten der hier registrierten Personen.
Dabei fällt auf, dass gesetzlich nicht vorgesehen ist, dass bei einem Datenzugriff durch eine Strafverfolgungsbehörde die betroffene Person später darüber informiert wird. Das ist unüblich, zumal in der Regel der geheime Zugriff auf Daten später mitgeteilt werden muss. Ungewöhnlich ist zudem, dass für die Prüfung, ob die Voraussetzungen für einen Datenzugriff gegeben sind, nicht etwa ein Gericht oder eine andere unabhängige Behörde zuständig ist, sondern die Einsatzzentrale des fedpol, also eine Polizeibehörde.
Damit bestätigt sich, was die Datensammelwut in Europa längst vermuten lässt: Migrantinnen in Europa geniessen nicht denselben Datenschutz wie die Einheimischen. Einschränkungen von Datenschutzrechten sind aus Gründen der Sicherheit möglich. Wenn aber bei migrationsrechtlichen Datensammlungen generell angenommen wird, dass diese auch einen sicherheitsbezogenen Zweck haben, werden Datenschutzrechte für Migrantinnen ganz grundsätzlich eingeschränkt. Ihre Daten sind, anders als diejenigen von in der Schweiz oder in EU-Ländern geborenen Menschen, sämtlichen Strafverfolgungsbehörden zugänglich. Nicht weil sie je strafrechtlich in Erscheinung getreten sind, sondern weil sie im Schengenraum um Schutz ersucht haben. Auf politischer Ebene gibt es gegen diese besorgniserregende Entwicklung keinen nennenswerten Widerstand – wie so oft, wenn es um die Weiterentwicklung von Schengen geht, stehen grundrechtliche Bedenken in der zweiten Reihe.
(Hs) und (Ln)