Für eine Schweiz, die die Rechte von Kindern und verletzlichen Flüchtlingen schützt
Bern, 20.11.2017 – Anlässlich des internationalen Kinderrechtstages überreichen Amnesty International, die Schweizerische Flüchtlingshilfe, Solidarité sans frontières, Droit de rester Neuchâtel, Collectif R und Solidarité Tattes gemeinsam dem Bundesrat den nationalen Appell gegen die sture Anwendung der Dublin-Verordnung. Die Organisationen wollen die Schweiz insbesondere an ihre Schutzpflicht gegenüber Flüchtlingskindern und ihren Familien erinnern.
Medizinische Fachleute, Lehrerinnen und Lehrer, Eltern von Schülern, Persönlichkeiten aus dem künstlerischen, literarischen und akademischen Bereich, Parlamentarierinnen und Parlamentarier verschiedener Parteien sowie Organisationen, die sich für die Förderung von Kinder- und Menschenrechten einsetzen: Sie alle appellieren heute an die Bundesbehörden, die Asylgesuche von Personen zu behandeln, die über ein europäisches Land in die Schweiz gekommen sind, wenn dies aus humanitären Gründen oder in Härtefällen gerechtfertigt ist. 33‘000 Personen und über 200 Organisationen haben den Dublin-Appell, der Ende April national lanciert wurde, unterzeichnet, darunter auch die drei Schweizer Kinder- und Jugendarztgesellschaften (SGP, SGKJPP und SGKC) und der Dachverband der Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH).
An einer Pressekonferenz in Bern haben Raphaël Comte (Ständerat PLR/FDP), Mattea Meyer (Nationalrätin SP), Franziska Peterhans (Zentralsekretärin LCH - Dachverband der Lehrerinnen und Lehrer Schweiz) und Dr. Hélène Beutler (Ko-Vorsitzende der Schweizerischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -Psychotherapie) für eine humanere Anwendung der Dublin-Verordnung plädiert.
Die Koalition hat zudem einen Brief an Frau Bundesrätin Simonetta Sommaruga und an alle kantonalen Behörden gerichtet, um diesen ein Treffen vorzuschlagen, an welchen die Forderungen aus dem Appell diskutiert werden.
Übergeordnetes Interesse des Kindes
Auf der Grundlage der Dublin-Verordnung werden Kinder mitten im Jahr aus ihren Klassen herausgerissen oder müssen eine medizinische oder psychologische Behandlung unterbrechen. Manchen von ihnen werden unter Verletzung des übergeordneten Kindesinteresses und der UNO-Kinderrechtskonvention von einem Elternteil getrennt.
Die Organisation Solidarité Tattes hat ein besonders brutales Beispiel einer Wegweisung dokumentiert. Um 4 Uhr früh dringt die Polizei in das Schlafzimmer von Frau B., Mutter eines sechs Monate alten Säuglings (dessen Vater in der Schweiz wohnt) und eines fünfjährigen Kindes ein. Das fünfjährige Kind, das im Kindergarten (Primarstufe) rasch französisch gelernt hat, muss seiner Mutter den Grund dieses Polizeibesuches übersetzen – eine für denselben Tag vorgesehene Dublin-Rückweisung nach Italien. Diese Rückweisung bedeutet insbesondere die Trennung des Säuglings von seinem Vater. Frau B. werden Handschellen angelegt und dementsprechend trägt ein Polizist den Säugling auf seinen Armen. Ein anderer hält das fünfjährige Kind an der Hand.
Solche Fälle brutaler Rückweisungen werden von NGOs regelmässig aufgedeckt. Berichte über die unwürdigen Aufnahmebedingungen in mehreren europäischen Staaten, in die die Flüchtlinge überstellt werden, sind öffentlich, und trotz alledem hinterfragt die Bundesverwaltung ihre Praxis nicht – die Dublin-Maschinerie läuft weiter auf Hochtouren.
Eine weniger strenge Anwendung
Die Dublin-Verordnung sieht eine Berücksichtigung der Verletzlichkeit von Menschen vor: «Aus humanitären Gründen oder in Härtefällen, und um Familienangehörige, Verwandte oder Personen jeder anderen verwandtschaftlichen Beziehung zusammenzuführen» kann die Schweiz die in Art. 17 Abs. 1 des Verfahrens vorgesehene Ermessensklausel zur Anwendung bringen und die gestellten Asylanträge prüfen.
Der Dublin-Appell fordert weder eine Gesetzesänderung noch ein Umwälzung der Asylpolitik, sondern lediglich eine Änderung der Praxis der Anwendung der Dublin-Verordnung durch die Behörden. Es ist ein Appell an den gesunden Menschenverstand – es geht um den besseren Schutz verletzlicher Personen, so wie er in der Verordnung vorgesehen ist.
Die Schweiz liegt bei Wegweisungen europaweit an der Spitze
Die Schweiz wendet die Dublin-Verordnung besonders streng an; sie liegt punkto Wegweisungen europaweit an der Spitze. Im Jahr 2016 hat die Schweiz 3’750 Personen auf der Grundlage von Dublin zurückgewiesen und nur 469 Personen auf gleicher Grundlage aufgenommen. Auch wenn Deutschland und Schweden mehr Dublin-Rückstellungen aufweisen (3’968 bzw. 5’244 im Jahr 2016), so nehmen sie gleichzeitig eine grössere Zahl an Menschen auf (12‘091 bzw. 3’306). Im Jahr 2016 wurden mehr als ein Drittel aller in der Schweiz gestellten Asylgesuche mit einem «Dublin Nichteintretensentscheid» abgeschlossen. Dies, obwohl die Zahl der Asylgesuche deutlich zurückgeht (39‘523 im 2015, 27‘207 im 2016, 13‘916 vom 01.01 bis 30.09.2017).