Frauen sind häufig die eigentlichen Pionierinnen von Migrationsbewegungen: "Sie reisen als erste aus und gelten oft als Gründerinnen einer Auswanderungsbewegung" [1]. Trotz dieser Vorreiterrolle haben Migrantinnen in der heutigen Migrationspolitik Europas jedoch geringere Chancen auf einen legalen Aufenthalt und eine legale Arbeit. Diskriminiert werden sie nicht nur durch den Arbeitsmarkt, der die mehrheitlich von Frauen geleistete Arbeit unterbewertet und den Zugewanderten eine fast unbeschränkte Mobilität abverlangt. Diskriminiert werden sie auch durch die Ausländergesetze, die typisch männliche Berufsqualifikationen voraussetzen und Aufenthaltsrechte an enge Zwecke binden – insbesondere in der Schweiz. Neben den im Familiennachzug eingereisten Ehefrauen sind MigrantInnen aus Nicht-EU-Ländern daher allgemein vorwiegend in prekären Arbeitsverhältnissen anzutreffen. Frauen bilden vermutlich auch die Mehrheit unter den Sans-papiers. Doch auch als Papierlose sind Frauen gegenüber Männern in der gleichen Situation benachteiligt: Mit der heutigen Schweizer "Härtefallpraxis" haben sie kaum Aussicht auf eine Legalisierung.
Die Grundlage für eine allfällige Einzelfall-Legalisierung bildet das am 21.12.2001 veröffentlichte Rundschreiben (hg. v. Bundesamt für Flüchtlinge, Bundesamt für Ausländerfragen), das eine komplexe Liste von hauptsächlich männerorientierten Überprüfungsaspekten angibt. Wer u.a. "berufliche Integration" und "Weiterbildung" sowie "wirtschaftliche Unabhängigkeit" belegen kann, hat Chancen, als "Härtefall in einer ausserordentlichen Notlage" anerkannt zu werden. Es handelt sich dabei um durchwegs nicht quantifizierbare "Kriterien", die von den Behörden beliebig nach eigenem Ermessen ausgelegt werden können. Alleinstehende Frauen mit Kindern haben in dieser Abklärung geringe Chancen, insbesondere wenn sie sich tatsächlich in besonderen Notlagen befinden. Diese Praxis ist für Migrantinnen fatal: Damit sie ihren Aufenthalt unter Berufung auf "humanitäre Gründe" verlängern oder sich legalisieren lassen können, müssen sie ihre Opferlage unter Beweis stellen. Das wollen die Frauen nicht. Und wenn sie in grosser Not dennoch über Unterdrückungsverhältnisse sprechen und Täternamen preisgeben, was für sie sehr riskant sein kann, dann befinden die Behörden nach eigenem Ermessen, ob "erhebliche Gründe" vorliegen. Eine zweifache Erniedrigung für Frauen. Eine dreifache Diskriminierung.
Geldüberweisungen von EmigrantInnen als wichtiger wirtschaftlicher Faktor
Diese rechtliche Diskrimierung von Migrantinnen steht in krassem Gegensatz zu ihrer wirtschaftlichen Bedeutung. Die regelmässigen Geld- oder Lohnüberweisungen von EmigrantInnen in die Heimat, die Remissen (oder Migradollars), sind für viele Herkunftsländer eine der wenigen bedeutenden Einnahmequellen, die Zuwachs verzeichnen. Sie stellen in vielen sogenannten 'Entwicklungsländern' einen beträchtlichen Teil des Volkswirtschaftseinkommens dar, der den Angehörigen der EmigrantInnen direkt zugute kommt. Gemäss einer IWF-Statistik transferierten WanderarbeiterInnen im Jahr 2000 weltweit über 62 Milliarden US\$ in ihre Heimat – 1994 belief sich der Gesamtbetrag noch auf rund 46 Milliarden. Diese Zahlen erfassen jedoch lediglich die über formelle Kanäle fliessenden Geldströme. Der informelle Überweisungssektor, der zunehmend wichtiger wird [2], bietet nicht nur günstigere Überweisungsgebühren an, sondern hat auch den Vorteil, dass Identitätsüberprüfungen entfallen. Er eignet sich daher für die Transaktionen von Sans-papiers weit besser. Der informelle Geldüberweisungssektor etwa über Reiseagenturen und Buschauffeure sowie die Übermittlung durch Vertrauenspersonen ist kaum erforscht; alles deutet jedoch darauf hin, dass auf diesem Weg riesige Geldsummen transferiert werden. Nach dem Terroranschlag vom 11. September 2001 ist erstmals das Hawala-System [3] ins öffentliche Interesse gerückt. Zudem erfolgen Remissen auch in Form von Naturalien, d.h. von im Zuwanderungsland gekauften Waren, wie Landwirtschaftsmaschinen, Computern, Lastwagen und anderen Produktionsmitteln, aber auch von Geschenken, welche die Arbeit im Haushalt erleichtern.
So stellt die Arbeitsemigration eines der wichtigsten Exportprodukte vieler ärmerer Länder dar, dessen Ertrag die offizielle "Entwicklungshilfe" weit übersteigt [4]. 83% des Lohntransfers von WanderarbeiterInnen flossen gemäss IWF-Statistik im Jahr 2000 in die sogenannten Entwicklungsländer (1994 waren es noch 75%) [5] . Über die ökonomischen Folgen von Remissen im Empfängerland streiten sich die WissenschaftlerInnen, doch überwiegt die Einschätzung, dass sie die lokale Wirtschaft beleben. Gemäss einer Untersuchung über die wirtschaftlichen Auswirkungen von "Migradollars"gelangten die Autoren Durand, Parrado und Massey 1996 zum Schluss, dass die jährlichen zwei Milliarden nach Mexiko überwiesenen Migradollars eine Produktion von sechseinhalb Milliarden US\$ auslösten und das Bruttoinlandprodukt um 5,8 Milliarden US\$ (3% des BIP) erhöhten. Dieses Jahr werden die Remissen nach Mexiko die Zehnmilliardengrenze überschreiten [6]. Die Remissen können somit, da sie in die unteren Gesellschaftsschichten fliessen, die Nachfrage nach einheimischen Gütern und Dienstleistungen (Nahrungsmittel, Bekleidung, Hausbau, Möbel, medizinische und schulische Leistungen) stimulieren [7].
Neben ihrer wirtschaftlichen Bedeutung haben Remissen aber auch soziale Funktionen: Einerseits erhöhen sie die Kaufkraft und den sozialen Status der begünstigten Angehörigen, ermöglichen wirtschaftliche Projekte an Ort und dienen als Alters- und Gesundheitsvorsorge. Andererseits halten sie die familiären Beziehungen trotz räumlicher Trennung aufrecht und integrieren die Familienangehörigen im Herkunftsland in ein transnationales Beziehungsgeflecht. Remissen an Familienangehörige seien, so Manuel Orozsco, für die wirtschaftliche und soziale Integration grosser Bevölkerungsteile von sogenannten Entwicklungsländern in das Netzwerk der Globalisierung ein Schlüsselfaktor. Der seit den 70er und 80er Jahren zu beobachtende Emigrationsprozess habe zu einem weltumspannenden "Diaspora-Herkunftsland"-Geflecht geführt, das sich von den früheren Diasporas deutlich unterscheide, schreibt Marc-Antoine Pérouse de Montois : Die neuen EmigrantInnen lebten mit einer Rückkehrperspektive und pflegten deshalb engsten Kontakt mit ihrem Herkunftsland. Dadurch finde ein enger Austausch zwischen den ausgewanderten und zurückgebliebenen Gemeinschaftsmitgliedern statt [8]. Gerade dieses Beziehungsgeflecht, so ist demgegenüber einzuwenden, kann aber MigrantInnen einer engen sozialen Kontrolle aussetzen. Sie stehen unter grossem Druck der Angehörigen, unter oft prekärsten Bedingungen die erwarteten Geldbeträge zu erwirtschaften. Durch ihre Frauenrollesind sie in besonderem Masse an solche familiären Verpflichtungen gebunden. So läuft auch ein grosser Teil des Frauen- und Heiratshandels über familiäre Strukturen, welche die Frauen auch im Zuwanderungsland in totalen Abhängigkeitsverhältnissen halten. Die restriktive Migrationspolitik der Zuwanderungsländer verunmöglicht eine Befreiung aus solchen Abhängigkeitsverhältnissen. Nur aufgrund ihrer wirtschaftlichen Eigenständigkeit vermögen sich viele Migrantinnen aus repressiven Verhältnissen zu lösen.
Die Bedeutung von Remissen von in der Schweiz arbeitenden Sans-papiers
In zahlreichen informellen Gesprächen mit Sans-papiers ist die zentrale Bedeutung von Remissen hervorgetreten. Sie beruht auf der Verpflichtung gegenüber den Familienangehörigen, monatliche Beiträge zu überweisen. Von den Remissen der mir bekannten zwei Dutzend Sans-papiers sind weit über hundert Angehörige existenziell abhängig. Die von mir befragten Sans-papiers aus dem ehemaligen Jugoslawien gaben an, pro Monat mindestens 1'000.- Franken ihren Familien in der Heimat zu überweisen. Dieser Betrag decke, neben der dortigen Gemüse- und Kleinviehproduktion durch die Ehefrau, die minimalen Lebenskosten einer Familie und die Ausbildungskosten der Kinder. Andere Sans-papiers schickten billig erstandene und wieder in Stand gesetzte Produktionsmittel nach Hause. Neben diesen materiellen Remissen haben aber auch neu erworbene Fähigkeiten eine grosse Bedeutung.
In der offiziellen Auseinandersetzung über die sogenannte 'Schwarzarbeit' pflegt man sich auf die Schätzungen von Friedrich Schneider zu berufen, der aufgrund der Bargeldnachfrage in einem Land die im informellen Arbeitssektor bar entlöhnten Leistungen einzuschätzen versucht. Für das Jahr 2000 schätzt Schneider die durch "irreguläre" Arbeit erwirtschafteten Beträge in der Schweiz auf insgesamt 35 Milliarden Franken, für das Jahr 2001 auf 37,5 Milliarden Franken, mit rasch steigender Tendenz seit 1995. Schneiders Untersuchungsansatz und -methode beruhen jedoch hauptsächlich auf dem Bild eines einheimischen (Schweizer) Schwarzarbeiters, der in seiner freien Zeit zusätzliche Dienstleistungen anbietet. Sein Konzept erfasst die informelle Arbeit der irregulär anwesenden und häufig voll beschäftigten AusländerInnen nur marginal [9]. Informelle Haushaltsarbeit schätzt Schneider als kaum vorhanden ein und lässt informelle Sexarbeit überhaupt ausser Betracht – zwei informelle Arbeitssektoren mit beträchtlichem Umsatz, in welchen fast ausschliesslich Sans-papiers-Frauen tätig sind [10].
Aufgrund einer Umfrage bei über tausend ArbeitgeberInnen in der Schweiz über die geschätzte Anzahl der irregulär beschäftigten AusländerInnen in der jeweiligen Branche ermittelten Etienne Piguet und Stefano Losa eine irreguläre Beschäftigung von 70'000 bis 180'000 AusländerInnen. Diese Zahl umschliesst zwar auch Asylsuchende ohne Arbeitsbewilligung, nicht aber die irregulären Aufenthalterinnen in den Haushalten und im Sexgewerbe. Letztere übersteigen natürlich anzahlmässig die irregulär beschäftigten Asylsuchenden bei weitem . Wenn man von einer – äusserst niedrig angesetzten – durchschnittlichen jährlichen Remisse von Fr. 2'000 ausgeht, so beläuft sich der Gesamtbetrag von ins Ausland überwiesenen Remissen auf 140 bis 360 Millionen Franken. Wie stark diese die Produktivität im Herkunftsland erhöhen, hängt davon ab, wie viel davon in die Inlandproduktion (und nicht in Importprodukte) fliessen.
Mehrfach höher als die Remissen sind die Gewinne aus den eingesparten Lohnkosten für irregulär beschäftigte AusländerInnen, welche die ArbeitgeberInnen in der Schweiz einstreichen. Gewinnbringend für die Schweiz sind auch die von Sans-papiers (und von regulären Nicht-EU-Angehörigen) geleisteten und nicht beanspruchten Sozialbeiträge [11].
Anni Lanz
Solidarité sans frontières
Okt. 2002
1 Fibbi Rosita: Neue Migrationsbewegungen, neue Betrachtungsweisen. Referat an der Jahresversammlung von migratio 2001
2 Orozco Manuel: Globalization and Migration: The Impact of Family Remittances in Latin America, July 2001, E-Mail
3 Das Geldüberweisungssystem Hawala entstand vor vielen hundert Jahren als Überweisungssytem von arabischen Händlern und beruht auf einer alten Tradition informeller „money brokers“. Die Hawala-Geldüberweisungen hinterlassen keine schriftlichen oder elektronischen Spuren und erscheinen in keiner Buchhaltung.
Zu den Ländern mit dem wertmässig grössten und steigenden Export von Arbeitskräften gehören im Jahr 2000: Marokko, Nigeria, Indien, Bangladesh, Pakistan, Sri Lanka, Türkei, Ägypten, Brasislien, Mexiko, Kolumbien, El Salvador, Equador, Dominikanische Republik, Mexiko. Portugal und Spanien verzeichnen rückgängige Remissen. (IMF 2001)
4 Zu den Ländern mit dem wertmässig grössten und steigenden Export von Arbeitskräften gehören im Jahr 2000: Marokko, Nigeria, Indien, Bangladesh, Pakistan, Sri Lanka, Türkei, Ägypten, Brasislien, Mexiko, Kolumbien, El Salvador, Equador, Dominikanische Republik, Mexiko. Portugal und Spanien verzeichnen rückgängige Remissen. (IMF 2001)
5 Balance of Payments: Statistics, Yearbook, (IMF 2001)
6 Financial Times vom 8.8. 2002: Banks discover lure of Mexican Migrants. Als die mexikanische Botschaft in den USA letztes Jahr den mexikanischen Sans-papiers Identitätskarten abgab, wurden 35'000 neue Bankkonten eröffnet. Die Banken in den USA haben nun das grosse Geschäft mit den Remissen gewittert und haben kostengünstigere spezifische Angebote entwickelt.
7 Durand Jorge, ParradoEmilio, Massey Douglas: „Migradollars and Development: A Reconsideration on the Mexican Case“. 1996, International Migration Review 30:423-444.
8 Pérouse de Montclos Marc-Antoine: African Diasporas, Remittances, Politics ans Development: a decisive Impact? In : Migration – A European Journal of international Migration and ethnic relations Nr. 33/34/35
9 Schneider Friedrich und Ernste Dominik: „Schattenwirtschaft undSchwarzarbeit. Umfang, Wirkungen und wirtschaftliche Empfehlungen. R.Oldenburg Verlag, 2000 München Wien
10 Im 2002 veröffentlichten Bericht der interdepartementalen Arbeitsgruppe Menschenhandel zu „Menschenhandel in der Schweiz“ (Bundesamt für Justiz) wird die Gesamtzahl der in der Schweiz arbeitenden Prostituierten auf rund 14'000 Frauen geschätzt. Die Schätzung ist aufgrund einer Umfrage des BAP bei Polizeikommandi in verschiedenen Kantonen entstanden. In dieser Zahl seien sowohl schwarz arbeitende wie offiziell gemeldete Prostituierte enthalten. Diese Schätzungszahl ist fragwürdig: Die Anzahl der Prostituierten schwankt in den Städten je nach der Nachfrage beträchtlich. So vervielfacht sich beispielsweise die Anzahl der Prostituierten, wenn stark besuchte Ausstellungen, Messen oder Kongresse stattgind. Zahlreiche Frauen beschränken sich auf Gelegenheitsprostitution. Zudem muss sich eine Umfrage bei den Polizeikommandi logischerweise auf die Anzahl der polizeilich kontaktieren Prostituierten beschränken und grenzt damit eine grosse Dunkelziffer aus.
11 Fibbi Rosita und Piguet Etienne: „La conribution des immigrés au developpement deleur pays d’origine. Le cas de la migration italienne en Suisse“,document prépareé pour le Centre de Développement de l’OCDE, Paris, 26./27.1. 1996. Seit 1985 übersteigt die Summe der aus der Schweiz an ItalienierInnen im Ausland überwiesenen Altersbeiträge die Summe der privaten Überweisungen tilgen mussten