Unter dem Radar fliegend, hoffentlich bald abgelehnt

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Zeichnung: ein MEgafon und ein Mikrophon

Mit dem Klimaseniorinnen-Urteil hatte der Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im letzten Frühling festgestellt, die Schweiz unternehme zu wenig, um ältere Menschen vor den Folgen des Klimawandels zu schützen und verletze damit das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens. Obwohl der EGMR die Schweiz nicht verpflichtete, irgendwelche Massnahmen zum Klimaschutz zu ergreifen, erzürnte das Urteil weite Teile der bürgerlichen Parlamentsmehrheit über alle Massen.

 

So wollte die SVP in der letzten Wintersession die Menschenrechtskonvention per sofort kündigen. Unter dem Vorwand, die Schweiz habe schon genug Menschenrechte kodifiziert und brauche deshalb keinen internationalen Schutz der Menschenrechte (mehr), lancierte sie dafür zwei gleichlautende Vorstösse und setzte damit eine der wichtigsten Errungenschaften des schweizerischen Rechtsstaats[1] aufs Spiel. Das Vorhaben scheiterte zwar – zum Glück - kläglich, es zeigt dennoch, dass Menschenrechte, die für alle, und nicht nur für ein «schweizerisches Mehrheitsvolk» gelten, nie für immer und ewig gelten, auch wenn sie in der Verfassung kodifiziert sind.

 

Im Windschatten der Empörungswelle hatte Ständerat Caroni (FdP, Appenzell-Ausserrhoden) Ende Mai 2024 die Motion «Der EGMR soll sich an seine Kernaufgabe erinnern» lanciert. Der Gerichtshof dürfe «namentlich keine ideelle Verbandsbeschwerde zulassen und nicht mittels ausufernder Auslegung der Grundrechte den legitimen Ermessensspielraum der Staaten einschränken».

 

Mit 32 Ja zu 12 Nein stimmte der Ständerat dem Vorstoss in der Herbstsession 2024 zu und auch der Bundesrat und die Mehrheit der Rechtskommission des Nationalrats nahm ihn Mitte Januar 2025 an. Nun ist er für die Frühjahrssession im Plenum der grossen Kammer traktandiert.

 

Caronis Vorstoss wirft grundsätzliche Fragen zum Menschenrechtsschutz auf: Ist es erstens angesichts dem Grundsatzes, dass Gerichte und damit auch ihre Richter:innen den Einzelfall unabhängig von andern staatlichen Organen und Einflüssen entscheiden sollen, zulässig, ihnen von Seiten des Parlaments einschränkende Leitlinien zu setzen? Ist dies, zweitens, angesichts des dynamischen Prinzips der EMRK, sinnvoll? Wir verneinen beide. Die Unabhängigkeit der Justiz ist eine zentrale rechtsstaatliche Garantie. Gerichte sollen nur an das Gesetz gebunden sein und sonst keinen Weisungen unterliegen. Zweitens garantiert die Europäische Menschenrechtskonvention bloss einen menschenrechtlichen Minimalstandard, den alle Mitgliedstaaten des Europarats einhalten sollten. Vor diesem Hintergrund will (und soll) der Gerichtshof EGMR eine dynamische Interpretation der Menschenrechte entwickeln, die der gesellschaftlichen Entwicklung Rechnung trägt, um längerfristig den menschenrechtlichen Minimalstandard anzuheben. Er findet für dieses Vorgehen namhafte Befürworter:innen in der juristischen Lehre und Praxis. Demgegenüber will Caroni – und mit ihm viele andere – den aktuellen Stand des Menschenrechtsschutzes einfrieren. Er verfolgt somit rückwärtsgewandte Ziele und stellte im Ständerat der richterlichen Unabhängigkeit schon fast Trumpelnd in Frage: «Wir reformieren, was uns nicht passt. Übersetzt in die Sprache des Sports: Wir optimieren das Schiedsrichterreglement und die Schiedsrichterausbildung. Das ist das, was diese Motion will.» Er verkennt offensichtlich nicht nur, dass der EGMR keinen Schiedsrichter braucht, sondern macht auch deutlich, was er meint: Es sind immer noch wir, die bürgerliche Mehrheit im Parlament, die den Umfang des Menschenrechtsschutzes bestimmen. Bald zeigt sich, ob die grosse Kammer diese Ansichten teilt.

 

Errungenschaften, welche die EMRK für die Schweiz brachten: «Wichtige Beispiele sind die wiederholt festgestellten Verletzungen des Rechts auf ein faires Verfahren gemäss Artikel 6 EMRK. Durch diverse EGMR-Urteile konnte etwa sichergestellt werden, dass Asbestopfer Zugang zu Schadenersatzforderungen haben, zudem wurden bei Obhutsstreitigkeiten Beschwerdemöglichkeiten geschaffen, und die unverhältnismässige lange Verfahrensdauer vor Schweizer Gerichten wurde reduziert. Mit diesen Urteilen wurde die Schweiz verpflichtet, Anpassungen im geltenden Recht vorzunehmen. Die Praxis des EGMR hat ausserdem zur Vereinheitlichung des schweizerischen Strafverfahrens beigetragen sowie Grundsätze der Verfahrensgerechtigkeit in der schweizerischen Strafprozessordnung entscheidend mitbeeinflusst. Dazu gehören etwa der Anspruch auf eine Pflichtverteidigung für angeklagte Personen, das Verwertungsverbot von illegal erworbenen Beweisen sowie die Befreiung von Verfahrenskosten für Angeschuldigte, die freigesprochen werden. Zudem wurden gestützt auf die Rechtsprechung des Menschenrechtsgerichtshofs mit der Totalrevision der Bundesverfassung von 1999 allgemeine Verfahrensgarantien (Art. 29 BV), eine Garantie speziell in Verfahren vor Gerichten (Art. 30 BV) und Garantien bei Freiheitsentzug (Art. 32) eingeführt. Speziell zu betonen ist ausserdem die Einführung des Rechtsmittels auf Revision, mit dem vor Bundesgericht die erneute Beurteilung eines Falles beantragt werden kann, wenn der EGMR eine Verletzung der EMRK festgestellt hat.»[2]

 

[1] Siehe unten: «Errungenschaften, welche die EMRK für die Schweiz brachten».

[2] https://www.humanrights.ch/de/ngo-plattform/motion-243485-staenderat-caroni-verletzt-richterliche-unabhaengigkeit-schwaecht-schutz-fundamentaler-rechte