«Irreguläre Migration» gegen Schutz für alle, die ihn brauchen

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Zeichnung von Kreisen

Die bürgerlichen «Leitmedien» verbreiten immer öfter die Erzählung, politische Untätigkeit gegenüber der «irregulären Migration» und gegenüber «mangelnder Integration» giesse Wasser auf die Mühlen der Rechtsextremisten und Neonazis. Dieses Narrativ ist falsch; es heizt bloss die Stimmung in der Gesellschaft zunehmend gegenüber Nicht-Schweizer:innen auf.

 

«Irreguläre Migration» wird zum stehenden Begriff. Gemeint damit sind meistens Menschen, die in die Schweiz kommen, um hier um Schutz vor Verfolgung, Krieg und Diskriminierung zu bitten und dann als anerkannte Flüchtlinge oder Vorläufig Aufgenommene ein Bleiberecht erhalten. Grosszügig gerechnet, handelt es sich dabei zahlenmässig um knapp zwei Prozent der Menschen (1,6% laut asile.ch), die in der Schweiz leben, also um nicht mehr und nicht weniger als um eine kleine Randgruppe, während die Rechtsbürgerlichen ständig von «Masseneinwanderung» herumposaunen.[1] 

 

Angesichts der vielen bewaffneten Konflikte in Europa und Nahost ist die verhältnismässig kleine Zahl von Asylsuchenden in der Schweiz erstaunlich. Offenbar können sich viele die Reise bis in die Schweiz nicht leisten oder werden schon vor der Schweizer Grenze von Küstenwache, Frontex oder Dublin abgefangen. Im Jahr 2023 erhielten 81% der Personen, deren Asylantrag in der Schweiz geprüft wurde, Schutz (B-Flüchtlingsausweis oder vorläufige Aufnahme). Eurostat, das die Daten in Längsrichtung betrachtet, nennt sogar eine höhere Quote: ca. 87%.

 

Faktencheck Asylpolitik

Von wegen «politischer Untätigkeit»: Bleiben wir doch bei den Fakten: In der Schweiz haben wir in den letzten fünfzig Jahren nichts Anderes gesehen, als Verschärfungen der Asyl- und Ausländergesetze. Und die Migrationsämter und das SEM setzen eine zunehmend restriktive Politik gegenüber Geflüchteten um, was diese auch an prekären Lebensumständen zu spüren bekommen. Daneben führt die Teilnahme der offiziellen Schweiz am europäischen Schengen/Dublin-System seit Jahren zu einer Beschränkung der Asylgesuche: Wie kaum ein anderer Mitgliedsstaat reizt sie alle Möglichkeiten von Dublin-Ausschaffungen aus und erzielt damit unter dem Strich in diesem Bereich einen negativen Einwanderungssaldo.

 

Trotzdem bleiben manche asylpolitischen Probleme ungelöst: Die beschleunigten Asylverfahren sind rechtsstaatlich betrachtet grenzwertig, die Schweiz macht kaum je vom Selbsteintreten Gebrauch, die beengten Lebensumstände in den Asylzentren sind von Isolation und medizinischer Unterversorgung geprägt, besonders verletzliche Asylsuchende erhalten zu wenig Aufmerksamkeit und Schutz, es gibt nach wie vor unverhältnismässig gewaltsam vollzogene Ausschaffungen. Zudem kommt es bei der Unterbringung von Geflüchteten immer wieder zu Engpässen.

 

Allerdings sollten die erheblichen politischen Bemühungen des Bundes und der Kantone um die Integration von Geflüchteten und Vorläufig Aufgenommenen während der letzten fünf Jahre nicht unterschlagen werden. In Gesetzgebung und später in der Praxis wurden hier Fortschritte erzielt, die früheres Versagen wenigstens teilweise kompensieren können. Diese Politik kann sicher nicht pauschal als gescheitert oder nutzlose Geldverschleuderung betrachtet werden, auch wenn da und dort noch erhebliches Verbesserungspotential besteht. 

 

Es ist eine Binsenwahrheit, dass eine gerechte Asylpolitik Geld kostet. Zum Glück konnten bisher alle politischen Vorstösse, die auf ein komplettes Wegsparen des Asylrechts abzielten, abgewendet werden.

 

Unter diesen Umständen ist die warnende These der bürgerlichen Medien, wonach Untätigkeit, Laisser faire und fehlende Integration Raum für Rechtsextremismus schaffe, unbegründet. Rechtsextreme und Neonazi haben es schon immer verstanden, mit Hilfe von provokativen Auftritten und Handgreiflichkeiten auf sich aufmerksam zu machen. Ihnen ist es aber nicht gelungen, das schweizerische Migrationsregime noch restriktiver und menschenverachtender zu gestalten, als sie heute schon ist.

 

Bürgerliche Migrationspolitik

Wer heute von politischer Laxheit oder von «Asylchaos» spricht, verbreitet fake news. Dessen ungeachtet versuchen die Parlamentarier von SVP und FDP, sich in einem ständigen Wettbewerb mit immer restriktiveren, menschenverachtenden und sogar rechtswidrigen Vorstössen zu übertreffen. Sie orientieren sich dabei meistens nicht an realen Problemen, sondern an kurzfristig aufkommenden Medienkonjunkturen. Ihre Anträge richten sie einmal gegen die Asylgewährung an afghanische Frauen, einmal gegen die Kleinkriminalität von abgewiesenen Asylsuchenden und dann wieder für die Ausschaffung von abgewiesenen eritreischen Geflüchteten, die in ein anderes Land verbracht werden sollten. Oder sie verlangen die völlige Abriegelung der Grenzen und die Durchführung der Asylverfahren in geschlossenen Haftzentren in einem anderen Land ausserhalb Europas. Mit solch unrealistischen Forderungen rühren sie ihre Werbetrommel, beschäftigen sie den parlamentarischen Apparat über Gebühr und verhindern gleichzeitig eine Diskussion über eine menschenrechtskonforme, gerechte und praktikable Reformpolitik im Asylbereich.

 

Dass die SVP in ihrer Migrationspolitik seit Jahren Stimmung gegen alle Migrant:innen macht und dabei ständig Migration und Asyl vermischt, sichert ihr eine komfortable Parteistärke. Allerdings scheint es, dass die SVP mit solchen Rezepten mittlerweile nicht mehr über ihre angestammte Wählerschaft hinaus mobilisieren kann. 

 

Demgegenüber zielt die Politik der FDP einerseits auf ein hartes Asylregime (das niemandem in der Schweiz wehtut) und anderseits auf eine liberale Zuwanderungspolitik für gut ausgebildete Fachkräfte. Neuestens diskutiert sie auch noch eine Einwanderungssteuer. Tendenziell kann sie mit einer solchen Ausrichtung wieder mit der SVP gleichauf ziehen und bestimmte Wählerschichten aus Mitte und GLP ansprechen. 

 

Wer dagegen hält

Ausser der SPS und der Grünen Partei kümmern sich noch kirchliche und religiöse Kreise um den Schutz und die Gleichbehandlung von Menschen, die hier leben, ohne einen Schweizer Pass zu besitzen. Sie stehen seit Jahren einer Mehrheit von indifferenten oder fremdenfeindlichen Schweizer:innen gegenüber. Ihre migrationspolitischen Vorstösse haben es in den Parlamenten und bei Abstimmungen meistens schwer und werden oftmals von der bürgerlichen Mehrheit auf die lange Bank geschoben. Sie können im besten Fall einzelne menschenrechtlich gebotene Missstände, wie die Inländerdiskriminierung beim Familiennachzug oder beim Verbleiberecht von Opfern häuslicher Gewalt, beheben. Aber wenigstens kann man ihnen nicht zu Recht vorwerfen, sie wären untätig. 

 

Damit in der schweizerischen Migrationspolitik Fortschritte in Richtung Wahrung der Menschenrechte und Schutz vor Verfolgung erzielt werden können, braucht es eine breite Diskussion, eine kämpferische Bewegung und hartnäckige und mutige Arbeit auf der Strasse und im Parlament.

 

Ausblick

Das wichtigste migrationspolitische Anliegen, das zur Zeit ansteht, ist die Gleichstellung der in der Schweiz lebenden Ausländer:innen auf politischer Ebene. Dass ein ganzes Viertel der Schweizer Bevölkerung vom Stimm- und Wahlrecht ausgeschlossen bleibt, kann nicht länger hingenommen werden und steht einer gleichberechtigten Gesellschaftsordnung im Weg. Die Demokratieinitiative der Aktion Vierviertel entfaltet starke integrative Wirkung und muss deshalb prioritär unterstützt werden. 


 

[1] Darin inbegriffen sind etwa 65‘000 Geflüchtete aus der Ukraine mit Status S.

 

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