Das Massaker von Pylos und was darauf folgte

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Bild by Eric Roset

«Über 600 Personen starben an dem Tag, aber das Pylos Massaker ist kein isoliertes Ereignis. Es ist die Konsequenz der von der Europäischen Union implementierten Migrationspolitik». Mit diesem Zitat beginnt eine Broschüre der «Offenen Versammlung gegen Grenzgewalt Lesbos». Am 14. Juni ereignete sich vor der griechischen Küstenstadt Pylos auf der Halbinsel Peleponnes ein Massaker: Obwohl zahlreiche Küstenwachen während Stunden über ein hoffnungslos überfülltes Boot in Seenot vor der griechischen Küste informiert waren, wurde es versäumt, das Boot zu retten. Die Adriana sank. Über 600 Menschen starben. 

 

Die Lügen

Entgegen zahlreicher Beweise, behauptete die griechische Küstenwache, das Boot sei nicht in Seenot gewesen. Zudem hätten die Passagiere angebotene Hilfe verweigert. Überlebende widersprechen dieser Darstellung. Hinzu kommt die Verpflichtung der Küstenwache, ein Boot zu retten, das objektiv betrachtet in Seenot ist. In diesem Fall betrachtete sogar die Agentur für Europäische Grenz- und Küstenwache, Frontex, die Situation als Notfall. Sie informierte Griechenland bereits am Vormittag vom 13. Juni über das Boot. Und bereits um 11:00 Uhr, also über 12 Stunden bevor die Adriana sank, informierte die italienische Seenotrettungsstelle (MRCC Rom) die griechische Küstenwache darüber, dass zwei Kinder auf Deck der Adriana gestorben seien. Zudem behaupteten die griechischen Behörden, dass die Adriana weiterhin gut vorwärts kam. Auch das erwies sich als falsch. Wie ein Blick auf der digitalen Schifffahrtsplattform Marine Traffic zeigt, versammelten sich während mehreren Stunden verschiedene Handelsschiffe um einen spezifischen Punkt: der auf dem Meer treibenden Adriana. Während Stunden bewegte sich die Adriana kaum. Verschiedene Überlebende berichteten zudem, dass es das Vorgehen der Küstenwache war, welche das Boot zum Sinken brachte. Dies, als die Küstenwache versuchte, das Boot mit einem Seil zu ziehen. Die Küstenwache bestritt das zuerst vehement, musste aber nach der Veröffentlichung entsprechender Fotos eingestehen, dass es einen Versuch gab, das Boot zu ziehen. Dieser habe jedoch zwei Stunden vor dem Sinken stattgefunden, hiess es dann.

 

Überlebende werden kriminalisiert

Nach der Rettung wurden jene, die überebten, ins Malakassa Camp ausserhalb von Athen gebracht. Dort unterlagen sie strikten Ein- und Austrittsregeln. Die Fotos und Videos von Überlebenden hinter Gittern gingen um die Welt. Laut Aussagen von Überlebenden wurden zudem ihre Aussagen verfälscht oder Teile davon nicht aufgenommen. Und nur einen Tag nach dem Schiffsunglück wurden neun ägyptische Staatsangehörige festgenommen und der Öffentlichkeit als «Schmuggler» präsentiert. Die Vorwürfe gegen sie: Beihilfe der illegalen Einreise, Verursachung eines Schiffsunglücks, Bildung einer kriminellen Organisation, illegale Einreise und fahrässige Tötung und Gefährdung des Lebens der Passagiere. Das folgt einem Muster: In Griechenland werden von jedem migrantischen Boot mindesten zwei Personen festgenommen, angeklagt und oft in Schnellverfahren verurteilt. Die Strafen sind astronomisch – wenn es auf der Überfahrt Todesfälle gab, dann übersteigen sie auch einmal 300 Jahre. Wie ein im Sommer 2023 erschienener Bericht der Nichtregierungsorganisation Borderline-Europe festhielt, sind in Griechenland 2154 Personen wegen solcher Verfahren inhaftiert (gemessen im Februar 2023). Es ist die zweitgrösste Personengruppe in griechischen Gefängnissen.

 

Gegensteuer geben

Im Fall von Pylos wird nun Unterstützung mobilisiert. Dutzende Anwält:innen schlossen sich in der «Initiative von Anwält:innen und Jurist:innen für das Schiffsunglück von Pylos» zusammen, um die Angeklagten zu verteidi- gen. Zudem reichten 40 Überlebende eine Strafanzeige gegen verantwortliche Behörden beim Marinegericht im Athener Stadtteil Piräus ein. Dabei geht es nicht nur darum, Aufklärung zu fordern und Kriminalisierung zu bekämpfen, sondern auch darum, sich den griechischen Behörden aktiv entgegenzustellen. Die Überlebenden, Angehörigen und die bewegte Zivilgesellschaft gemeinsam. Eine genauso nötige wie unterstützenswerte Initiative.