Mitten in Berns Samstagsverkauf haben 11 000 Menschen Not und Leid beklagt, wie man es als Schweizer erahnen kann, von dem man so gut wie sicher aber nie bedoht sein wird. Und doch habe diese Not, so wurde da betont, viel mit der Schweiz zu tun - heute schon, je nach Schweizer Volksentscheid im Herbst bereits bald erst recht.
Beklemmende Eindrücke gibts an der nationalen Grossdemonstration schon bei der Besammlung, als die auf elftausend Köpfe anschwellende Menge via Megafon gebeten wird, aufs Abfeuern von Knallkörpern zu verzichten - dies aber nicht einmal so sehr, damit Bern seine Ruhe hat, sondern «weil in unserer Mitte Flüchtlinge mit Kriegstraumata sind». Auch wird eindringlich appelliert, strikte friedlich zu marschieren - aber nicht einmal nur, damit Bern Frieden hat, sondern «weil es in der Demo viele Sans-Papiers hat», Immigranten im Untergrund, ohne Pass und ohne legalen Status, in ständiger Angst lebend, von der Polizei erwischt zu werden.
Die Schweiz als Fall für Amnesty
Und ja, es ist zu spüren, in vielen Gesichtern zu lesen, in Reden zu hören: Hier ist die Klage von «echten Problemen» dieser Welt, nicht von Sorgen, wie man sie als Bürger eines Landes hat, in dem aller eigenen Bedrängnis zum Trotz ja doch immer noch auf hohem Niveau gejammert wird. Da ist Stanley Van Tha, Burmese, der im von einer Militärjunta regierten Myanmar zu 19 Jahren Gefängnis verurteilt worden sei - nachdem die Schweiz ihn ausgeschafft habe. Da ist Shiar Ahmad, Kurde, der im Syrien des Baath-Regimes in Haft misshandelt worden sei und sich das Leben genommen habe - nachdem die Schweiz ihn ausgeschafft habe. Da ist Ihab Alariki, der im von einem General autoritär regierten Jemen verhaftet und misshandelt worden sei - nachdem die Schweiz ihn letzten Oktober ausgeschafft habe. Und da ist Erdogan E., Kurde, dem in der Türkei politische Gefangenschaft drohe - wenn die Schweiz den in Liestal in Ausschaffungshaft Sitzenden ausschaffe. Für diese Angaben gibts eine vertrauenswürdige Quelle: Amnesty International, seit 45 Jahren weltweit tätige Menschenrechtsorganisation.
Er werde oft gefragt, warum Amnesty, sonst gegen Diktaturen engagiert, nun in der als «Weltmeisterin der Menschenrechte» angesehenen Schweiz aktiv werde, sagt Daniel Bolomey von AI Schweiz. Er antworte, Amnesty habe jetzt «gar nicht die Möglichkeit, nicht einzugreifen» - denn: «Menschenrechte zu verteidigen heisst auch, die Rechte der Asylsuchenden und der Migrantinnen und Migranten gegen Diskriminierung und Willkür zu verteidigen.» Und wenn am 24. September die Asyl- und Ausländergesetzverschärfung angenommen werde, werde dies «dramatische Fälle wie Stanley Van Tha zur Folge» haben, warnt Bolomey.
Von Franco, Hitler, Kopf und Herz
So sieht es auch Alt-Bundesrätin Ruth Dreifuss, die als junge Sozialdemokratin und Gewerkschafterin geholfen hatte, Sans-Papiers illegal ins Schweizer Exil zu schleusen - Spanier und Portugiesen, Verfolgte von Franco-Diktatur und Salazar-Regime, denen folternde Schergen die Pässe weggenommen hatten, um Exilierung zu verhindern (was laut Dreifuss zeigt, dass das Fehlen von Papieren gerade Hinweis auf Verfolgung sein kann). Die frühere Schweizer Innenministerin findet, «Kopf und Herz» würden ein doppeltes Nein im September gebieten: Das Herz gebiete, sich dagegen zu wehren, dass allen abgelehnten Asylsuchenden Sozialhilfe verweigert werden soll, weil es nicht menschenwürdig sei, Zehntausende in Illegalität, Angst und Not zu drängen - und der Verstand sage einem, dass solche Massnahmen ja nur zu noch mehr Unsicherheit führten. Auch Alexander Tschäppät (sp), Berner Stadtpräsident, hat die Gesetzesrevision kritisiert, als er am Freitagabend die 70-Jahr-Feier der Schweizer Flüchtlingshilfe eröffnete. Diese war 1936 entstanden, um Flüchtlingen aus Hitlers Nazi-Reich zu helfen. Die Schweiz hatte bis 1945 gut 30 000 Flüchtlinge aufgenommen, bekanntlich aber Tausende, zumal Juden, an der Grenze zurückgewiesen - viele in den Tod, in Auschwitz oder anderswo. «Nie wieder Menschen verstossen!» fordern, diese Vergangenheit im Hinterkopf, denn auch Teilnehmende der samstäglichen Grosskundgebung auf einem Transparent. Die von Gewerkschaften, SP und Grünen sowie von Asyl-, Kirchen- und Menschenrechtsorganisationen organisierte Demonstration unter dem Motto «Wir sind die Schweiz - gegen die Blocherschweiz» ist bewilligt und verläuft völlig friedlich.
Regierende vs. «Blocherschweiz»
Opposition gegen die Vorlagen kommt auch von Exekutiven: Der Regierungsrat von Basel-Stadt sowie Zürichs Stadtregierung und Winterthurs Sozialchefin werben laut «NZZ am Sonntag» für ein Nein. In Bern will Sozialdirektorin Edith Olibet (sp) - die wie Gemeinderätin Regula Rytz (gb) an der Demonstration teilnahm - im Erlacherhof Eintreten für das Referendum beantragen.
Der Bund, Rudolf Gafner