Dies ist nicht etwa eine Absichtserklärung aus Gründungszeiten der Eidgenossenschaft im Jahr 1291 oder einer bundesrätlichen Kommission der Schweiz im 19. Jahrhundert, als in Europa noch der Hunger wütete. Nein, es ist der Grundsatz, nach dem eine knappe 3:2 - Mehrheit des Bundesgerichts in Lausanne im März 2005 entschied, dass auch abgewiesene Asylbewerber Anspruch auf eine minimale Nothilfe hätten. Das Gericht berief sich auf Artikel 12 der Bundesverfassung, der besagt, dass jedem Menschen in der Schweiz ein menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen sei. Die Klage war von einem schwarzafrikanischen Asylbewerber eingereicht worden, der von einem Nichteintretensentscheid betroffen war. Mit seiner Klage wollte er gegen die solothurnischen fremdenpolizeilichen Behörden protestieren, die ihm minimale Nothilfeleistungen verweigerten. Er bekam zwar Recht, aber dennoch. Wie kann es so weit kommen, dass in einem der reichsten Länder der Welt die höchste richterliche Instanz festhalten muss, dass Menschen nicht dem Hungertod überlassen werden?
Seit Gründung von Longo mai engagieren wir uns für eine menschlichere Behandlung der Ausländerinnen und Ausländer in der Schweiz und anderswo. Was aber seit einem Jahr zwischen Genf und Romanshorn geschieht, ist auch für uns beinahe unfassbar. Tausende von Menschen werden jährlich durch die neuen Gesetze zu recht- und schutzlosen sogenannten Sans-Papiers gemacht.
Seit dem Amtsantritt Christoph Blochers in den Bundesrat fand ein rasanter Abbau der humanitären Grundsätze statt. Unzählige Asylbeamte und Stammtischtrinker fühlen sich durch diesen neuen Bundesrat darin bestätigt, dass Fremdenfeindlichkeit erneut offen propagiert werden kann. Herr Blocher versteht es in heimtückischer Weise immer wieder, Signale in diese Richtung auszusenden, selbst antisemitische Äusserungen sind hier und da zu vernehmen.
Das einzig Erfreuliche an der jetzigen Entwicklung ist, dass zahlreiche Organisationen und Einzelpersonen sich öffentlich zu Wort melden, um ihrem Unmut darüber Ausdruck zu verleihen. So erklärte beispielsweise die Schweizerische Bischofskonferenz unlängst, dass notleidenden Menschen auch dann geholfen werden soll, wenn dies nicht legal sei. Bischof Koch aus Basel bezeichnete die Asylpolitik Blochers gar als ein Krebsgeschwür. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International kündigte an, das Referendum gegen die neuen Gesetze zu ergreifen, wenn nicht entscheidende Verschärfungen gestrichen würden. Im Kanton Waadt zeigen Umfragen, dass eine Mehrheit der Bevölkerung die von Bern verordnete Ausschaffung mehrerer Hundert abgewiesener Asylsuchenden missbilligt.
Deshalb beteiligen wir uns seit Monaten an den Vorbereitungen für eine gesamtschweizerische Kundgebung gegen Fremdenfeindlichkeit und Sozialabbau. Sie findet am Flüchtlingstag, dem 18. Juni, um 14 Uhr auf dem Waisenhausplatz in Bern statt und steht unter dem Motto "Wir sind die Schweiz". Der Aufruf, der von ca. 100 Organisationen und Gruppierungen unterstützt wird, besagt u.a.: "Wir alle, die in der Schweiz leben, sind die Schweiz, unabhängig von unserer Herkunft, unserem Pass und von unse-rem Aufenthaltsstatus. Eine Schweiz, die ihre Identität im Streben nach Demokratie, im Ideal der Menschenrechte und in der Vielfalt ihrer Kulturen sieht".
Wir möchten unsere Leserinnen und Leser in der Schweiz aufrufen, am 18. Juni auch nach Bern zu kommen. Für zusätzliche Informationen können Sie uns jederzeit anfragen oder die eigens eingerichtete Homepage www.ohneuns.ch konsultieren.
Claude
* Bundesrichter Thomas Merkli im Tages-Anzeiger vom 18.3.05