Von Jürgmeier
Fest ist der Griff. Laut seine Stimme. Zaghaft sind ihre Bewegungen. Schwach der Protest. Ihr Wollmantel passt nicht zu den blutten Knien und Bäuchen der Gäste, die in vierfarbigen Speisekarten nach Fitnesstellern und Coupes à discretion suchen. Von durchtrainierten Händen am Ellbogen gepackt, muss sich die Eingeschüchterte - die sich anschickte, als Bittstellerin vor die Schranken der Fun People zu treten - ins Gewusel der PendlerInnen und ShopperInnen zurückstossen lassen. „Jeden Tag dieselbe Scheisse!“, brüllt er ihr nach.
Ich stelle mir vor, ich hätte an einem dieser Tischchen gesessen. Wäre ich froh gewesen, dass ich ungestört in einem der Romane hätte weiterlesen können, in denen Menschen mit spannenden, das sind von Krieg und Elend geprägten Lebensläufen gefragt sind? Oder hätte ich mich kurz empört, um mich dann vom Rausschmeisser beruhigen zu lassen – eine kleine Betrügerin, echte BettlerInnen kämen nicht bis zur Bahnhofstrasse.
Zum Glück wohnen wir nicht am Meer. Bis die Gestrandeten aus aller Welt auf dem Landweg in die Schweiz kommen, sind sie durch mindestens einen „sicheren Drittstaat“ getrampt, der zur „Rückübernahme“ der „AsyltouristInnen“ verpflichtet ist. Und welcher wirklich Not Leidende kann sich schon einen Charterflug um die halbe Welt leisten? Welcher an Leib und Leben (und nicht bloss von Hunger) Bedrohte kann sich noch die nötigen Papiere zum Einchecken beschaffen? Wer, weil hastig aufgebrochen, in Unterhosen, schwarz und lebend bis Zurich-Airport gelangt, wird wegen sittenwidrigen Verhaltens umgehend des Landes verwiesen. Echt ist nur der Flüchtling, der es nicht bis in die Schweiz schafft. Das ist die Logik derer, die die verbreitete Sehnsucht nach eidgenössischer Gemütlichkeit zu stillen suchen.
Warum noch Rausschmeisser in Beizen und an Grenzen? Wo doch das Gesetz des „übersättigten“ Marktes längst menschenverachtende Gleichgültigkeit verbreitet? Vorbei die Zeiten, in denen mir BettlerInnen das Wasser in die Augen trieben und das Geld aus dem Sack zogen. Es genügt, den um Almosen Bittenden die Türen zu öffnen – nach zwei Wochen spätestens spricht sich herum, da sei nichts mehr zu holen, die Gäste schauten nicht einmal mehr auf. Haben sie, haben wir Angst, wir könnten in Momenten, in denen die Erinnerung an die internationale Solidarität durch den Panzer der Bequemlichkeit bricht, schwach werden und doch noch zehn Quadratmeter in unseren Wohnungen räumen?
Übrigens, wer sich einen Rausschmeisser hält, muss wissen, mit wem er sich einlässt – ein Biedermann ist es nicht.
Jürgmeier
Schriftsteller
Erwachsenenbildern (u.a. Leitung von Männergruppen)
Berufsschullehrer.
Letzte Veröffentlichungen:
Der Mann, dem die Welt zu gross wurde, 2001: Lectura-Verlag, Nürnberg;
Staatsfeinde oder SchwarzundWeiss – Eine literarische Reportage aus dem Kalten Krieg, 2002: Chronos-Verlag, Zürich.