Erica Brühlmann-Jecklin
Als die Kurdenfamilie mit den drei Buben in unser Ferienhaus im Zürcher Oberland kamen, weil ihr drohte, trotz noch hängigem Gesuch ausgeschafft zu werden, schrieben wir einen Brief an den damals zuständigen Bundesrat und baten um Rat und Hilfe, zumal der Familienvater in der Türkei zweifelsfrei gefoltert worden war. Während wir auf Antwort aus Bern warteten, bekamen unsere Flüchtlinge (auf Veranlassung "gestörter" Nachbarn) Besuch von zwei zivilen Polizisten. Das Szenario hatten wir zum Glück vorbesprochen. Rechtzeitig konnten wir die Familie über die grüne Grenze nach Deutschland bringen, wo sie längst integriert als anerkannte Flüchtlinge leben.
Die erste Lüge
Diese Geschichte widerlegt die erste Behauptung der SVP, die in der Begründung zur Volksinitiative "gegen Asylrechtsmissbrauch" am 24. November zur Abstimmung gelangt, und entlarvt sie als Lüge. Eine "Drittstaatregelung analog den Nachbarländern der Schweiz" soll inkraft treten. Die Wahrheit ist, dass diese Familie nicht die einzigen Flüchtlinge waren und sind, welche über das "Drittland Schweiz" in einem unserer Nachbarländer Aufnahme fanden.
M. ist, seit er einjährig war, auf der Flucht. Als Junge kam er mit den Eltern und Schwestern in die Schweiz, wo er die Schule besuchte und erstmals eine Zugehörigkeit zu einem Land und Heimatgefühle entwickeln konnte. Er gehört zu den legendären Flüeli-Ranft-Flüchtlingen, die im Jubeljahr der Eidgenossen vor mehr als zehn Jahren brutal und unwürdig in die Türkei ausgeschafft wurden. Damals war M. 14-jährig. Um dem Militär und den Schergen, die auch den Vater erneut verfolgten, zu entfliehen, lebte er fortan im Untergrund eines unserer Nachbarländer. Als Jugendlicher kam er über diesen "Drittstaat" zurück in das Land, indem er die längste Zeit seines Lebens an einem Stück hatte verbringen dürfen, und stellte hier ein Asylgesuch. Der regelmässige Gang zum Sozialamt, das Eingeschränktseit in verschiedener Hinsicht, zum Beispiel keinen Beruf erlernen zu dürfen in einem Alter, wo unsere Jugendlichen mit Selbstverständlichkeit eine Schule oder eine Lehre absolvieren, hielt er vier Jahre lang aus, ohne dass ein Entscheid über sein Gesuch gefällt wurde. Die Idee, sich einen spezialisierten Anwalt zu nehmen, zog die unglückselige Idee nach sich, sich dafür Geld zu beschaffen. Der inzwischen 23-jährige sah keinen andern Ausweg, als delinquent zu werden. Seit Monaten sitzt er in Untersuchungshaft, leidet an schweren Depressionen aufgrund der Perspektivenlosigkeit, die ihn schon ein Leben lang begleitet. Dass er seine Tat, mit welcher er für sich Gerechtigkeit und Menschenwürde geben wollte, heute zutiefst bereut, hilft ihm im Moment nicht weiter.
Die zweite Lüge
Da die Fürsorgeleistungen an Asylsuchende bereits auf einem Minimum und die Arbeitsmöglichkeiten vehement beschränkt sind, gibt es hier nichts Neues zu regeln. Hätte die Einschränkung der Arbeitsmöglichkeiten und eine Mindestabgabe von Fürsorgeleistungen nicht bereits bestanden, dann hätte M. einen Beruf erlernen und für sich selber aufkommen können, anstatt -nach einer kinderzeitlangen Flucht- weitere vier Jahre -jetzt als Jugendlicher- gedemütigt zu werden. Ich lege meine Hand ins Feuer für den jungen Mann, dessen Weg ich seit mehr als zehn Jahren immer wieder mal begleite: Wäre ihm Gerechtigkeit widerfahren, hätte er nicht delinquiert. Asyssuchende werden in der Regel schon heute nicht oder nur äusserst beschränkt in einen Arbeitsprozess integriert. Es stimmt nicht, dass hier etwas geändert werden könnte. Der junge A. entfloh vor etwa fünf Jahren dem Bürgerkrieg von Somalia. Seine Frau und sein einjähriges Töchterchen wollte er nachholen. Bereits in der ersten Asylunterkunft stürzte der damals 23-jährige mit dem Fahrrad so unglücklich, dass er sich Halswirbel brach. Zurück blieb eine schwere Behinderung. A. ist seither Tetraplegiker. Heute lebt er in einem Wohnheim für Behinderte im Kanton Zürich. So bekam er bislang nicht die Möglichkeit zu einer Rehabilitation im Schweizerischen Paraplegiker Zentrum Nottwil, weil sich die ärztlichen Leistungen seitens der Krankenkasse auf Institutionen im Kanton Zürich beschränken, die in den ganzen Jahren weder die nötige Schmerztherapie noch eine adäquate Rehabilitation erbrachten und schon gar nicht in Erwägung zogen, den noch jungen und intelligenten Mann, der inzwischen gut Deutsch spricht, beruflich einzugliedern. Ein Gesuch um Nachzug von Frau und Kind ist seit Jahren in Bern hängig. Ein einziges Mal wurde ihm gestattet, seine Familie ein einem "Drittland" zu treffen.
Die dritte Lüge
Die Kostenexplosion der obligatorischen Krankenkasse den Asylsuchenden anzuhängen, wie dies die SVP in ihrer Begründung zur Initiative tut, ist mehr als beschämend. Asylsuchende erhalten bereits heute ein Minimum von dem, was einem kranken Schweizer, einer kranken Schweizerin zukommt, was das Beispiel von A. zeigt. Ja, es ist sogar schon jetzt so, dass die Praxis dem Credo der Invalidenversicherung, "Eingliederung vor Rente", entgegenwirkt.
Asylsuchende nur noch "im Notfall ärztliche und zahnärztliche Hilfe zukommen zu lassen", wie das die Initiative fordert, spottet jeder Menschlichkeit und zieht die humanitäre Tradition der Schweiz massiv in Schmutz und Dreck. Wer definiert den Notfall? Ist zum Beispiel eine chronische Blinddarmentzündung, um nur ein Beispiel zu nennen, bereits ein Notfall? Oder muss der Wurmfortsatz zuerst platzen, damit dem Asylsuchenden ärztliche Hilfe zuteil wird? Gilt der hippokratische Eid, in jedem Fall zu helfen, nach dem 24. November bei ÄrztInnen nur noch bei einem Teil ihrer PatientInnen? Dass nicht behandelte Krankheiten zuerst zu Notfällen werden sollen, die dann mit Sicherheit das Kostensystem um ein Vielfaches belasten können (Intensivpflegestation, Behinderungen etc.), wäre die unabdingbare Folge solcher Praxis.
Die vierte Lüge
Die vierte Lüge ist bereits im Initiativ-Wort "Asylrechtsmissbrauch" enthalten. Ich selber stolpere ständig darüber. Das Wort beinhaltet den Widerspruch in sich. Haben Menschen, die zu uns kommen und uns um Asyl bitten, nun ein Recht darauf, dass man ihr einzelnes Schicksal individuell prüft? Oder wird das Recht darauf, das im übrigen in Artikel 14 der "Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" als solches festgehalten ist, umgewandelt in ein Wort, das den Missbrauch bei jedem Asylsuchenden apriori impliziert? Das Wort "Asylrechtsmissbrauch" verdreht die Wahrheit, negiert, dass es tatsächlich Menschen gibt, welche die Hilfe der Schweiz brauchen, und die, da die Schweiz nun einmal auch in politischer Hinsicht ein "Binnenland" ist, welches man nur über sogenannte "Drittstaaten" erreichen kann, gar keinen andern Weg wählen können, um zu uns zu kommen. Ihnen muss das Recht auf individuelle Prüfung ihres Gesuches erhalten bleiben. Noch bin ich stolz auf die humanitäre Tradition der Schweiz. Ich hoffe, das sei auch nach dem 24. November noch der Fall.