Die Geschichte, die hier erzählt werden muss, begann im Mai 2019, als der Verein «grundrechte.ch» mit einer Aufsichtseingabe an die für die Geheimdienstkontrolle zuständige Geschäftsprüfungsdelegation des Parlaments gelangte: Der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) überwache nach wie vor – illegal – die Ausübung politischer Rechte. Das belegten die Antworten, die diverse Organisationen auf ihre Gesuche um Auskunft über die beim NDB gespeicherten Daten erhalten hatten. Immer wieder war darin der Aufruf zur Demonstration «Zwischen uns keine Grenzen» am 16. Juni 2018 in Bern aufgetaucht. Solidarité sans frontières hatte diese Demo organisiert. Sie war ohne Zwischenfälle verlaufen und endete in einem Fest auf dem Bundesplatz. Etwa 4 000 Menschen hatten daran teilgenommen.
Als wir im September 2019 dem Aufruf von grundrechte.ch folgten und ebenfalls Einsicht in unsere Daten verlangten, wussten wir also bereits, dass sich in den Dateien des NDB etwas über Sosf finden würde. Die 13-seitige Übersicht, die uns der Dienst im November 2020, also über ein Jahr nach unserem Gesuch, zukommen liess, hat aber auch uns überrascht. Der erste der 77 Einträge, die der NDB auflistet, stammt nämlich von 2006, der letzte vom Juli 2019; er erfolgte also gerade einmal zwei Monate vor unserem Einsichtsgesuch.
Unvollständige Auskunft
Gegen diese erste Antwort des NDB haben wir protestiert, weil sie gleich doppelt unvollständig war: Während nämlich andere Organisationen, die vor uns eine Antwort erhalten hatten, auch Kopien der zitierten Dokumente erhielten, legte uns der NDB erstens nur eine Übersicht vor. Diesen Mangel hat der Dienst in seiner zweiten Antwort vom Februar 2021 teilweise ausgeglichen. Zu einzelnen Punkten sind Kopien beigelegt, die aber zum grossen Teil geschwärzt sind. Immerhin erfuhren wir jetzt, dass einige Informationen über Sosf aus dem «Internetmonitoring Linksextremismus» stammen. Auch die Informationen zu den einzelnen Einträgen sind ein gutes Stück länger und präziser, weshalb die Übersicht nun 18 Seiten umfasst.
Der zweite Mangel ist gravierender und bleibt auch in der zweiten Antwort erhalten: Der NDB erteilt uns zwar Auskunft über Daten aus den Systemen
- Elektronische Lagedarstellung (ELD),
- GEVER NDB (dem System zur Geschäftsbearbeitung und -kontrolle, das sowohl «administrative» als auch «nachrichtendienstliche» Daten enthält),
- IASA NDB (dem «Integralen Analysesystem» des Dienstes) sowie
- IASA-GEX NDB (seinem «Integralen Analysesystem» zum «Gewaltextremismus».
Aber gleichzeitig erklärt er jedoch, dass die Auskunft darüber, ob in diesen und anderen Informationssystemen des NDB (z.B. im INDEX NDB oder im «Restdatenspeicher») weitere Informationen über uns enthalten sind, aufgeschoben werde. Nach Art. 63 des Nachrichtendienstgesetzes (NDG) ist das möglich aus überwiegenden «Geheimhaltungsinteressen» oder wenn über die Person oder Organisation keine weiteren Daten bearbeitet werden. Im letzteren Falle erfolgt eine Mitteilung drei Jahre nach dem Auskunftsgesuch, bei Fragen der Geheimhaltung spätestens nach Ende der Aufbewahrungsdauer – und die beträgt zum Beispiel für «sonstige sicherheitsrelevanten Daten» in IASA NDB «höchstens» 45 Jahre.
Und was speichert der NDB über uns?
«Informationen über die politische Betätigung und über die Ausübung der Meinungs-, Versammlungs- oder Vereinigungsfreiheit» darf der NDB nur dann beschaffen und bearbeiten, wenn er «konkrete Anhaltspunkte» hat, dass eine Person oder Organisation Ihre Grundrechte nutzt, um zum Beispiel gewalttätig-extremistische Tätigkeiten vorzubereiten oder durchzuführen. So stand es bereits vor 2016 im Bundesgesetz über die Wahrung der Inneren Sicherheit und so steht es heute in Art. 5 des NDG.
Spätestens die Antwort des NDB auf unser Einsichtsgesuch zeigt, dass diese Formel nur eine rechtliche Beruhigungspille ist. Kostprobe gefällig? In Unter den «administrativen Daten» in GEVER NDB erfasst der Dienst u.a. Informationen über unsere Vernehmlassungen zu diversen Gesetzentwürfen. Die halten wir zwar nicht geheim. Sie stehen auf unserer Homepage und selbstverständlich dürfen sie auch Mitarbeiter*innen des NDB lesen. Aber wozu speichert ein Geheimdienst Daten über diese Form institutioneller Politik?
Fast sämtliche «nachrichtendienstlichen» Einträge in GEVER und den anderen Informationssystemen beziehen sich auf unsere politischen Aktivitäten. Das beginnt 2006 mit unserer Solidarität mit Dursun Güner, einem in der Schweiz anerkannten politischen Flüchtling, der bei einer Fahrt nach Deutschland an der Grenze festgenommen und in Auslieferungshaft versetzt wurde (Seite 7, Nr. 25, Antwort des NDB vom Februar 2021). Güner sass mehrere Monate in Lörrach im Knast, bis das Oberlandesgericht Karlsruhe das türkische Auslieferungsersuchen in die Tonne trat. Sind die Flugblätter von 2006 ein Zeichen von «gewalttätigem Extremismus», das man auch nach 13 Jahren noch aufbewahren muss?
Das nächste fichierte Ereignis stammt aus dem Jahre 2010. Es ist eine Mahnwache auf dem Bundesplatz in Bern. Zwei Tage zuvor war der Nigerianer Joseph Chiakwa bei der Ausschaffung gestorben. Sosf organisiere «hauptsächlich Mahnwachen», schrieb der NDB in seinem «Lagerapport», «Probleme sind nicht zu erwarten» (Seite 6 Nr. 23). Wozu wird die Mahnwache dann doch erfasst und bleibt zwei Jahrzehnte lang gespeichert?
Es folgt die Demo «Freiheit, Gleichheit, Würde für mich und dich» am 26. Juni 2010 (Seite 7/8, Nrn. 26 u. 27). Wir haben die friedliche, aber kämpferische Demo veranstaltet, nicht aber die anschliessende Besetzung der Kleinen Schanze, die so friedlich war, dass selbst der damalige Chef des Bundesamts für Migration Alard Du Bois-Reymond dort erschien – und zwar im makellosen beigen Anzug.
Der letzte Eintrag des Jahres stammt wie viele andere danach von der Kantonspolizei Bern: Am 19. November 2010 zeigten wir auf dem Berner Waisenhausplatz eine Reihe von Kurzfilmen, die Micha Lewinski für die 2xNein-Kampagne gegen die SVP- Ausschaffungsinitiative und den Gegenvorschlag produziert hatte. (u.a. Seite 8, Nr. 28).
Und so geht es auch in den nächsten Jahren weiter: Demos und Veranstaltungen, die wir organisierten oder unterstützten, Podiumsdiskussionen, an denen wir auftraten, Solidaritätserklärungen, die wir unterzeichneten – zum Beispiel für Nekane Txapartegi, die baskische Aktivistin, die letztlich doch nicht nach Spanien ausgeliefert wurde … Ein Artikel über sie von unserer Homepage erscheint im «Internetmonitoring Linksextremismus» des NDB.
Daten auf Vorrat
Wie kommt es also, dass unsere Aktivitäten regelmässig in den Agenden und Lagerapporten des NDB landen? Müssen wir davon ausgehen, dass Sosf auf der vom Bundesrat jährlich genehmigten Beobachtungsliste des NDB oder auf seiner «GEX-Liste» steht, in der die Organisationen aufgeführt werden, die als «gewalttätig extremistisch» gelten sollen? Oder ist es bei bestimmten Kantonspolizeien und beim NDB einfach üblich, öffentliche Anlässe von linken Organisationen und sozialen Bewegungen auf Vorrat zu erfassen?
Sicher ist jedenfalls, dass diese Informationen nichts zur «inneren Sicherheit» der Schweiz beitragen. Der NDB hat es nicht geschafft, die x Wiederholungen aus seinen diversen Datensystemen zu tilgen. Offensichtlich gibt es auch keine Updates zu den vielen angekündigten Demos und Aktionen – und wenn, dann hätten sie auch nur enthalten können, dass nichts passiert ist. Von 2006 bis 2019 hat der Geheimdienst Datenschrott über uns produziert. Die einzige Logik, die sich bei diesem Schrott zeigt, ist die, die auch schon für die papiernen Fichen und Dossiers vor dem grossen Skandal 1989 galt: Der Geheimdienst bespitzelt die politischen Gegner*innen – und die stehen im Allgemeinen links. Dabei ist ihm offensichtlich vollkommen egal, ob Aktionen legal und gewaltfrei waren und die Fichierung damit illegal.
Statt den Dienst endlich in demokratische Schranken zu weisen oder ihn – am Besten – gleich ganz abzuschaffen, plant die zuständige Militärministerin Viola Amherd nun den Ausbau seiner Befugnisse: Dem Vernehmen nach sollen die Schnüffler*innen dazu ermächtigt werden, auch im Falle von «gewalttätigem Extremismus» Telefone und E-Mails überwachen, Staatstrojaner einsetzen und Wanzen setzen zu dürfen. Die einzig mögliche Antwort darauf ist ein klares und deutliches «Nein. Räumt erstmal Euren Saustall auf.»
Sosf fordert jedenfalls alle asyl- und migrationspolitisch bewegten Gruppen und Organisationen auf, Auskunft über ihre Daten zu verlangen.
(Bu)
Musterbrief für ein Auskunftsgesuch
Der Nachrichtendienst des Bundes sammelt Daten über Solidarité sans frontières
Mit Offenheit gegen Geheimniskrämerei: Wir veröffentlichen die Antworten des Geheimdienstes auf unser Einsichtsgesuch.