Am 20. September 2018 waren wir erneut als internationale Beobachter beim Prozess gegen den Syrer Ahmed Hamed in Szeged (Südungarn). Ahmed H. hatte im September 2015 seine Eltern und die Familie seines Bruders auf der Flucht von Syrien nach Europa begleitet und aus menschlicher Not gehandelt, als es nach der plötzlichen Schliessung der ungarischen Grenze zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwi-schen der Polizei und den Flüchtenden kam. Danach wurde er als „Rädelsführer“ verhaftet.
In der ersten Instanz war Ahmed H. in einem Schnellverfahren zu 10 Jahren Haft wegen „Terrorismus“ verurteilt worden. In der Revision im März 2018, an der wir bereits anwesend waren, wurde das Straf-mass auf 7 Jahre reduziert. Der Terrorvorwurf blieb bestehen.
Jetzt fand die Verhandlung in der zweiten Instanz vor dem Berufungsgericht in Szeged statt. Nach den Plädoyers der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung sowie dem Schlusswort des Angeklagten kam es noch am Morgen zur Urteilverkündigung der drei RichterInnen. Obwohl die Staatsanwaltschaft nach wie vor auf einem extrem hohen Strafmass von 14 bis zu 24 Jahren Gefängnis beharrte, reduzierten die Rich-terInnen die Strafe von der ersten Instanz noch einmal auf jetzt 5 Jahre. Das Berufungsgericht hielt es für erwiesen, dass Ahmed H. bei den Protesten gegen die Schliessung der Grenze anfänglich vermittelt und verletzten Personen geholfen hatte, sich dann aber nach mehreren Stunden zu fünf Steinwürfen gegen die hinter dem Grenzzaun postierten Polizisten hinreissen liess, nachdem diese massiv Tränengas und Wasserwerfer auch gegen alte Menschen und Kinder eingesetzt hatten.
Durch sein Verhalten habe der Angeklagte unter Anwendung von Gewalt die Forderung erhoben, gegen den Willen der Polizeiführung ungarisches Territorium rechtswidrig betreten zu wollen und somit die Staatsorgane genötigt, die Grenze zu öffnen – eine in unseren Augen unhaltbares Konstrukt, um den Vorwurf des „Terrorismus“ nachträglich zu legitimieren. In Ungarn ist Terrorismus mit einer Mindeststrafe von fünf Jahren belegt. Das Berufungsgericht verhängte genau diese Mindeststrafe, weil es strafmildernd das vermittelnde Verhalten von Ahmed H und seine auch in seinem Schlusswort ausgedrückte Reue über die Steinwürfe berücksichtigte.
Doch Mindeststrafe hin oder her: Ahmed H. ist jetzt wegen fünf im Affekt aus mindestens 30 Meter Ent-fernung abgegebenen Steinwürfen gegen einen Polizeikordon, die niemanden trafen oder verletzten, ein verurteilter Terrorist. Als internationale Beobachter sind wir über diese Tatsache schockiert. Dieses Urteil zeigt erneut, dass das Verfahren von Anfang an ein politischer Prozess war, an dem Ahmed H. als Sündenbock herhalten musste, um die flüchtlingsfeindliche und rassistische Politik der ungarischen Regie-rung zu rechtfertigen. Ahmed H. bleibt dadurch weiterhin auf das Schwerste stigmatisiert. Dass die Rich-terInnen dies in Kauf genommen haben, spricht gegen ihre Unabhängigkeit von der Orban-Regierung und auch gegen die Unabhängigkeit ihres Gewissens. Zudem öffnet das Urteil durch die extensive Anwen-dung des Terrorismus-Begriffs Tür und Tor für die weitere Kriminalisierung von Flüchtenden und ihren UnterstützerInnen sowie von möglichen regierungskritischen sozialen Bewegungen.
Ahmed H. ist bereits seit 3 langen Jahren in verschärfter Untersuchungshaft. Das Gericht hat jetzt im rechtsgültigen Urteil diese drei Jahre in den 5 verhängten Jahren verrechnet. Der Verurteilte hat zusätz-lich 10 Jahre Landesverbot bekommen und muss den grössten Teil der Verfahrenskosten tragen. Ahmed H. kann nach der Verbüssung von Zweidritteln der Strafe frei kommen. Ausserdem ordneten die Richte-rInnen die Überführung von Ahmed H. in den normalen Strafvollzug an und hielten fest, bei weiterhin guter Führung könne er in vier Monaten bedingt entlassen werden.
Wir freuen uns, wenn Ahmed H. endlich zu seiner Frau und seinen Kindern zurückkehren kann! Damit wäre ein kafkaeskes Trauerspiel zu Ende, das auf eklatante Weise die Verflechtung brutaler politischer Macht mit einer willfährigen Justiz zu Tage gefördert hat.
Claude Braun (CH), Camillo Römer (D) und Michael Rössler (CH, D) vom Europäischen BürgerInnen Forum, Basel (CH), Guido Ehrler, Anwalt, Basel (CH), mandatiert von den Demokratischen JuristInnen Schweiz