Tote auf dem Weg der Migration: Rolle und Verantwortung der Schweiz
In den verschiedenen Interviews, die Bundesrätin Simonetta Sommaruga im Vorfeld des Ministertreffens „Kontaktgruppe zentrales Mittelmeer“ gegeben hat, fällt auf, dass die Tragödien, welche die Migranten auf ihrem Weg erleben, irgendwie vom Himmel zu fallen scheinen. Nie wird der Link zwischen der schweizerischen und europäischen Politik der Externalisierung der Grenzen und der dramatischen Lage in Libyen gemacht. Nie wird der Link gemacht zwischen dem immer perfektionierteren Schutz der Grenzen und den immer gefährlicheren Wegen, die die Migranten einschlagen, das Risiko ihres Todes in Kauf nehmend. Nie wird der Link gemacht zwischen der Ausbeutung Afrikas durch Schweizer Multinationale – die „Paradise Papers“ haben es gerade erneut bestätigt – und der Unmöglichkeit für viele Afrikaner, sich eine Existenz aufzubauen. Dieses Treffen, das Frau Sommaruga in der humanitären Tradition der Schweiz sieht, ist in Wirklichkeit ein moralischer Schutzschild für eine neokolonialistische Migrations- und Aussenpolitik, die nicht mehr akzeptabel ist, eine Politik, bei der den Multinationalen alle Freiheiten der Ausbeutung der Menschen und der Ressourcen zugestanden werden, den Opfern aber weder Freiheit noch Rechte.
Solidarité sans frontières will diesen heuchlerischen Diskurs demaskieren, weshalb wir auf vier Punkte näher eingehen möchten:
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Die Unterstützung der libyschen Grenzwächter durch Material und Ausbildung sowie die Errichtung von Aufnahmecamps in vier Hafenorten ist kein „Schutz“ der Flüchtlinge. „Schutz der Flüchtlinge“ wäre die dafür vorgesehene Million Franken dafür zu verwenden, die in Libyen gefangenen Personen, die nach Europa wollen, in der Schweiz aufzunehmen.
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Den Libyschen Grenzwächtern behilflich zu sein, Boote im Meer abzufangen, ist kein « Schutz der Flüchtlinge ». Wenn Frau Sommaruga behauptet, die Zusammenarbeit mit den libyschen Grenzwächtern habe 12‘000 Menschen vor dem Ertrinken gerettet, so ist dies eine missbräuchliche Ausdrucksweise. Es ist allgemein bekannt, dass die „geretteten“ Personen oft schlechter Behandlung wir Folter, Zwangsarbeit, sexueller Gewalt oder grundloser Haft ausgesetzt sind. Es gibt tatsächlich Schiffe, die Tausende Menschen im Mittelmeer gerettet haben, wie jene von Sea Eye oder Médecins sans frontières, aber deren Arbeit wird von Tag zu Tag schwieriger, sie werden ständig kriminalisiert und „Schleppern“ gleichgesetzt.
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Die in Libyen gefangenen Personen zu evakuieren, um sie in riesige Camps in Nigeria zu verschieben, ist kein „Schutz der Flüchtlinge“. Vergessen wir nicht, dass die Wüste – weit weg von den Augen der Europäer, es sei denn sie reisen in ihren Ferien hin um zu meditieren – noch ein viel grösserer Friedhof ist als das Mittelmeer.
Die momentane Lage der Migranten in Nordafrika ist ernst, und die westliche Welt ist dafür verantwortlich. Eine grundlegende Infragestellung tut not, sowohl bezüglich der Migrationspolitik, die die „dreckige Arbeit“ den Ländern an den Aussengrenzen Europas überlässt, als auch der neokolonialistischen Politik, die in den Beziehungen zwischen der Schweiz und Afrika immer mitspielt. Wir, die Bewohner der Schweiz, erwarten etwas mehr Mut, Ehrlichkeit und Kritik der Rolle der Schweiz, insbesondere von einer Bundesrätin, die sich in ihrem Interview mit der WOZ wünscht, dass wir „nicht zu stark in einem eurozentrischen Denken verharren“…