Manifest R
Im Anschluss an die Besetzung der Kirche Saint-Laurent vom 20. Dezember 2014;
Im Anschluss an die grosse Unterstützung gegenüber der Deklaration „Nous désobéissons“ , welche die Kriminalisierung der Solidarität mit den rückschaffungsgefährdeten Migrant_innen anprangerte;
Im Anschluss an die Lancierung einer Petition gegen die Dublin-Rückschaffungen nach Italien;
Aufgrund der Weiterführung der Abschiebungen nach Italien und der Ausweisung von Migrant_innen, die seit vielen Jahren in der Schweiz leben;
Angesichts der fortdauernden Belästigungen von Seiten der Autoritäten gegen traumatisierte und ausgebrannte Personen,
machen wir, solidarische Personen, den Grundsatz der Gastfreundschaft geltend und unterstützen die Besetzung der Kirche Saint Laurent,
um einen Zufluchtsort gegen die Rückschaffung von zurückgewiesenen Asylsuchenden zu schaffen.
Wir fordern :
1. Ein Moratorium aller Dublin-Rückschaffungen nach Italien und aller Rückschaffung traumatisierter oder kranker Personen in andere Dublin-Staaten.
Das Dublin-Abkommen wird von Hilfsorganisationen immer häufiger in Frage gestellt. Es wurde auch vom UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) und vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte kritisiert.
Wenn die Migrant_innen erschöpft, zutiefst verletzt und häufig traumatisiert in der Schweiz ankommen, sehen sie sich mit einer rein administrativen Behandlung ihres Antrags konfrontiert: Sie können weder die Gründe für ihr Asylersuchen zum Ausdruck bringen, noch die Gründe für die Weiterreise in die Schweiz angeben. Die Menschen werden von einem Land ins andere abgeschoben wie Lasten. Diese systematische Misshandlung zerstört Leben! In einem kürzlich gefällten Beschluss hat der europäische Gerichtshofs für Menschenrechte bestätigt, dass die Schweiz mit der Ausschaffung einer Familie nach Italien, ohne individuelle Garantie für ihre Unterbringung erhalten zu haben, das Verbot von Folter und unmenschlicher und erniedrigender Behandlung (Art. 3 EMRK) missachte. Trotz dieses Beschlusses verfolgt das Staatssekretariat für Migration (SEM) die Abschiebung von Asylsuchenden, inklusive Familien, nach Italien weiter. Dort fehlt eine angemessene Empfangsinfrastruktur und so leben zehntausende von Migrant_innen ohne Betreuung auf der Strasse. Gemäss dem UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) konnte Ende Juni 2014 nur für einen von vier Flüchtlingen oder Asylsuchenden eine Unterkunft bereitgestellt werden!
Andom, 27 Jahre, ist vor der Diktatur in Eritrea und dem lebenslänglichen Militärdienst geflohen. Er war vier Jahre lang auf der Flucht, hat sich seine Reise arbeitend finanzieren können. Von den lybischen Autoritäten verhaftet und zurückgehalten, gelang es ihm schliesslich das Mittelmeer zu überqueren, wo er miterlebte, wie Weggefährten auf der Überfahrt erkrankten und über Bord geworfen wurden. Da er von den Umständen wusste, von denen Migrant_innen in Italien betroffen sind, hat er versucht, sobald wie möglich weiterzureisen, er konnte jedoch die digitale Aufzeichnung seines Fingerabdrucks nicht verhindern. Darum haben ihn die Schweizer Behörden des Landes verwiesen und sein Praktikum bei einem Bäcker in Lausanne unterbrochen. „Ich hatte noch nie in meinem Leben Ruhe.“, sagt Andom. „Warum geben mir die Behörden in diesem Land keinen Frieden?“
Mikili, 23 Jahre, sass in Eritrea im Gefängnis und musste weitere unrechte Behandlungen über sich ergehen lassen, weil er sich geweigert hatte, eine Waffe zu Hause zu lagern. Wie Andom hat er die Wüste bis Lybien überquert. Er hat „blutige Tränen geweint“ auf dem Schiff, das ihn nach Europa bringen sollte und welches beinahe Schiffbruch erlitt, bevor die italienische Marine die Insassen retten konnte. Auf der Halbinsel angelangt, hat er dann einige Kameraden in Obdachlosigkeit angetroffen. „Ich sah sie draussen schlafen und wollte nicht, dass mir dasselbe geschah.“, erklärt Mikili. Aber der junge Mann wurde einige Hundert Meter vor der Schweizer Grenze kontrolliert. Mikili hat so das schreckliche Dublin-Spiel verloren und muss zu seinem Ausgangspunkt Italien zurück. Aber er ist bereit, dafür zu kämpfen, dass er in der Schweiz bleiben und seine Schulzeit hier zu Ende machen kann.
Die kantonalen und eidgenössischen Behörden müssen die Dublin-Ausweisungen nach Italien sofort stoppen, indem sie den Handlungsspielraum der Souveränitätsklausel brauchen, den andere Länder schon anwenden. Wir fordern, dass die Überlebenden der Grausamkeit, wie Andom und Mikili, endlich Schutz und Bleiberecht in der Schweiz erhalten.
Abraham, 30 Jahre, ist vor dem Militärdienst in Eritrea geflohen. Als Deserteur hat er sein Leben riskiert und ist in den Sudan geflohen, wo er geheiratet hat. In der Furcht vor Rückführungen durch regierungsgestützte Kriminelle in der Sinai-Wüste, hat er beschlossen, weiter zu fliehen. In der Hand von Schleppern hat er in Lybien einen wahren Albtraum erlebt: Durst, Hunger, Schutzgeld, Schläge. Er konnte sich aus der Gefangenschaft befreien und das Mittelmeer mit 94 weiteren Personen in einem Schlauchboot überqueren. In Italien konnte Abraham vor der Polizei flüchten und ist mit vier Kameraden schliesslich nach Schweden gelangt. Alle ausser ihm haben da Asyl erhalten: die schwedischen Behörden hatten geargwöhnt, dass er Äthiopier und nicht Eritreer sei. In der Schweiz wurde die Notsituation von Abraham nicht anerkannt. Heute ist er von der Ausschaffung nach Schweden bedroht, obwohl er traumatisiert ist und medikamentös gegen eine Depression ankämpfen muss. „Ich habe Gewalt erlebt, aber die körperlichen Wunden vernarben allmählich. Im Kopf aber ist das Erlebte unbezwingbar, es ist so viel, dass es mich kein Gleichgewicht finden lässt. Nachts habe ich Angst, dass mich die Polizei holt. Nur der Glaube lässt mich durchhalten.“
Dinkenesh*, 29 Jahre, hat eine lange Geschichte der Oppositionspolitik in ihrem Land, Äthiopien, hinter sich, wo die Regierungspartei seit 24 Jahren an der Macht ist. Weil sie Unterschriften für eine Petition gegen die von der Regierung propagierte Politik der ethnischen Diskriminierung sammelte, wurde sie von ihrer Ausbildung zum Kindermädchen ausgeschlossen. Sie engagierte sich darauf in einer Oppositionspartei. Da sie massive Betrüge anprangerte, wurde die junge Frau eingesperrt und brutal verprügelt. Dabei verlor sie ihr Kind. Als Nahestehende der „9 bloggers“, neun als Terroristen beschuldigte äthiopische Blogger und Journalisten, von denen acht im Gefängnis sind, gelingt es ihr mit einem Handelsvisa für Holland aus dem Land zu fliehen. Da sie unter dem Familiennamen ihres Ex-Mannes reist, dessen Eltern Anhänger der Regierung sind, glaubt sie, dass die Regierung sie nicht mehr nach Äthiopien zurückzwingen kann. Am Flughafen in Amsterdam nimmt sie sofort einen Flug in die Schweiz, wo sie von Schleppern eingesperrt und vergewaltigt wird. Dinkenesh leidet unter posttraumatischen Stress-Syndromen. „Ich habe Angst, dass ich die Kontrolle über mich verliere, wenn ich wieder von hier abreisen muss. Ich habe keine Energie mehr, ich kann nicht einmal mehr weinen, manchmal denke ich daran, mich umzubringen. Ich habe kein Zuhause.“
*Der Name ist ein Pseudonym.
In der Anwendung des Dublin-Abkommens mit anderen Unterzeichner-Staaten müssen die Behörden ihre Urteilsfähigkeit beweisen und darauf verzichten, traumatisierte oder kranke Menschen wie störende Frachtgüter in Länder abzuschieben, die diesen häufig völlig unbekannt sind. Wir fordern von den Schweizer Behörden die Asylgesuche zu prüfen und Menschen, die wie Dinkenesh und Abraham unseres Schutzes bedürfen, ein Bleiberecht zu gewähren.
2. Eine Politik der Gastfreundschaft gegenüber Migrant_innen, die vor Krieg, Diktatur und Elend flüchten
Der Kanton Waadt muss auf die inakzeptable Ausschaffung von Menschen aus Ländern, die dem Krieg, diktatorischen Regimen oder schweren humanitären und sozialen Krisen ausgeliefert sind, verzichten. Das SEM übt absolute Macht über das Leben von Menschen aus, die grundlegende Menschenrechte entbehren müssen, indem es mit einer rein administrativen Perspektive über ihre Ausschaffung in Krisenländer (wie Nigeria, Kongo-Kinshasa, Sierra Leone, usw.) entscheidet, ohne existenzielle Aspekte zu berücksichtigen. Wir fordern vom Kanton Waadt seine Verantwortung wahrzunehmen und auf die Ausübung von Massnahmen, welche die Integrität und Freiheit des einzelnen Menschen untergraben, zu verzichten. Es geht um die Einhaltung des Non-Refoulement-Prinzips, welches in mehreren internationalen Abkommen von der Schweiz ratifiziert wurde! Die Antifolterkonvention verbietet auch die Ausschaffung von Menschen in Länder, in denen schwere Verbrechen gegen die Menschenrechte verübt werden.
Wir fordern, dass Menschen und Familien, die seit Jahren in einer unzumutbaren Ungewissheit leben, die von einer drohenden Ausschaffung betroffen sind, obwohl sie alles Mögliche gemacht haben, um sich hier ein neues Leben aufzubauen, ein humanitäres Bleiberecht erhalten. Es gibt Männer und Frauen, die seit zehn Jahren das Regime der Nothilfe unter entwürdigenden und skandalösen Umständen erdulden, die ihre Integrität, ihre Persönlichkeit und diejenige ihrer Kinder schädigt!
Das Refuge
Das Refuge in der Kirche Saint-Laurent ist notwendig, um die zurückgewiesenen Asylsuchenden zu beschützen gegen die Risiken einer Ausschaffung in Länder, in denen sie keine Beziehungen haben und um ihre physische Integrität fürchten müssen.
Aber dieses Refuge ist nicht einfach ein Aufnahmeort, ein Unterschlupf für schutzbedürftige Menschen. Seit seinem öffentlichen Vorhandensein und seiner Bestimmung als Ort der Begegnung, soll es der waadtländischen Bevölkerung die tragische Situation von Menschen zeigen, die seit vielen Jahren oder nach langen Leidenswegen unter uns leben.
Es ist der letzte Ort, um den Forderungen der Migrant_innen ein Gehör zu verschaffen und ihre Rechte vor sachkundigen Autoritäten einzufordern.
Wir rufen alle solidarischen Personen auf, uns zu unterstützen, indem sie dieses Manifest und die nationale Petition gegen die Dublin-Rückschaffungen unterzeichnen!