Migrant*innen und ihre Unterstützer*innen in Bosnien-Herzegowina
In Bosnien-Herzegowina halten sich nach wie vor rund 7000 Flüchtlinge auf, die nach Nord- und Westeuropa wollen. An der Praxis der kroatischen Polizei, sie beim Grenzübertritt mit massiver Gewalt «zurückzuschlagen» und ihnen fundamentale Rechte zu versagen, hat sich nichts geändert.
Das inoffizielle Lager Vucjak in der Nähe von Bihac stand im November letzten Jahres im Focus der öffentlichen Aufmerksamkeit. Es hatte geschneit. Die Medien verbreiteten Bilder von jungen Männern, die in Badeschlappen durch den Matsch des Lagers wateten und sich in Decken wickelten, um sich ein wenig vor der Kälte zu schützen. Es fand ein unwürdiges politisches Gerangel darum statt, wohin die Menschen, die auf einer Mülldeponie hausten, gebracht werden sollten. Ausser dem Roten Kreuz weigerten sich andere internationale Hilfsorganisationen, auf Vucjak tätig zu werden, weil die Bedingungen zu schlecht waren. Auch Vertreter*innen der EU in Bosnien-Herzegowina mischten mit Ratschlägen kräftig mit, ohne dass die EU das grundlegende Problem angepackt hätte: die gewaltsamen Rückschiebungen an der kroatischen EUAussengrenze und die fehlende Umsiedlung von Flüchtenden aus Staaten des ehemaligen Jugoslawiens in die EU.
Was ist seither geschehen?
Nach langem politischem Hin und Her und diversen bosnischen und internationalen Appellen wurden Anfang Dezember rund 700 Menschen von Vucjak in die ehemalige Kaserne Blažuj und das Lager Ušivak bei Sarajevo gebracht. Nach wie vor sind jedoch Hunderte, wenn nicht gar Tausende Migrant*innen im Kanton Una-Sana (USK) obdachlos. Allein im Umkreis von Velika Kladuša, einer Stadt mit 45 000 Einwohner*innen an der bosnischkroatischen Grenze, seien es derzeit 800 Menschen, schätzt ein Aktivist.
Wir – das ist eine Gruppe um den Aargauer SP-Politiker Stefan Dietrich – treffen Menschen, die von den offiziellen Lagern Miral in Velika Kladuša und Bira in Biha? abgewiesen werden. Ein junger Afghane berichtet, dass er seit einem Monat erfolglos versuche, in Miral aufgenommen zu werden. Wer in dem von der Internationalen Organisation für Migration (IOM) geleiteten Lager registriert ist, erhält Essen und einfache medizinische Versorgung. Offiziell soll das Lager nicht vergrössert werden, sondern eher weniger Menschen aufnehmen.
Viele ehemalige Bewohner*innen von Vucjak sind zwar froh, in Ušivak oder Blažuj ein Dach über dem Kopf zu haben und Essen zu erhalten. Ihr Ziel ist jedoch klar: Sie warten, bis es wärmer wird, und versuchen erneut im Kanton Una-Sana über die Grenze zu gelangen und das hier schmale Stück Kroatien schnell hinter sich zu lassen.
Solidarische Zivilbevölkerung
Überall, wo wir hinkommen, treffen wir auf eine beeindruckende solidarische Zivilgesellschaft. In Velika Kladuša haben der Aktivist Daka und seine Helfer*innen ihre Gruppe nun offiziell als Organisation «Kuhinja Bez Imena Bosna» (No Name Kitchen Bosnia) registriert. Erst dadurch können sie sich bei der Unterstützung von Migrant*innen in einem halbwegs sicheren legalen Rahmen bewegen. Diese Registrierungspflicht gibt es bezeichnenderweise nur im Una-Sana Kanton, wo sich viele Migrant*innen aufhalten (siehe augenauf Bulletin 101, Mai 2019). Die in und ausländischen Freiwilligen von «Kuhinja Bez Imena Bosna» wissen um die Bedürftigkeit der Migrant*innen, die in Velika Kladuša vor allem in Squads leben. So packen die Freiwilligen zweimal pro Woche Essenspakete, waschen Kleider oder begleiten Migrant*innen zu einer Station von Ärzt*innen ohne Grenzen oder ins Spital.
«I love you!», «I love you, too!»
In Bihac treffen wir Jasmina*. Sie bringt in einem Teil ihres wiederaufgebauten Hauses Flüchtende unter. Auf die Frage, ob sie keine Angst vor Repressionen habe, schliesslich agiert sie auch im Kanton Una-Sana, fragt sie zurück: «Kann man denn für Menschlichkeit bestraft werden?» In Bihac sei die Lage derzeit ruhig. Das Lager in Vucjak existiere nicht mehr. Die Kantonsregierung hat demonstriert, dass sie etwas gegen die Migrant*innen unternimmt. Den Bewohner*innen von Bihac sei auch klar, dass Sarajevo nicht mehr Migrant*innen aufnehmen könne und dass kein neues Lager gebaut werde. Die Polizei sperre die Migrant*innen auch nicht ein; deshalb seien nach wie vor viele in der Stadt, aber es gebe weniger Aufregung um sie als im Spätherbst.
Auch Jasmina und mit ihr viele andere geben Kleider und Schlafsäcke aus und packen Essenspakete für die Migrant*innen, wenn diese aufs «game» gehen, d.h. den Weg über die grüne Grenze nach Kroatien versuchen. Wir begleiten sie zu einer Hausruine in der Nähe des Bahnhofs in Bihac. Die sieben junge Männer, die hier leben, wollen sich von ihr verabschieden, bevor sie sich im strömenden Regen auf den Weg machen. Alle umarmen sie mit gesenktem Kopf, nennen sie immer wieder «Mama» und versichern ihr, dass sie sie vermissen werden, was sie fröhlich und mit sicherer Stimme erwidert. Im Hauseingang drehen sich einige noch einmal um und rufen ihr über die Strasse zu: «I love you!» und Jasmina antwortet: «I love you, too!».
Zwischen Entitäten und Kantonen
Kljuc liegt eine gute Autostunde südöstlich von Bihac an der Strasse nach Sarajevo. Mustafa Lepirica arbeitet hier für das lokale Rote Kreuz. Sanela Klepic, seine Tochter, ist Lehrerin und Mutter. Während des Bosnienkrieges haben sie einige Jahre in der Schweiz gelebt. Die beiden kümmern sich täglich um die Migrant*innen, verteilen Spenden, auch der lokalen Bevölkerung: Kleider, haltbare Lebensmittel und Hygieneartikel. Das Rote Kreuz von Kljuc unterstützt aber auch lokale Familien und Einzelpersonen in Not. Sanela schildert das örtliche Problem: Hier grenzt der Kanton Una-Sana an die Republika Srpska, die keine Flüchtlinge aufnimmt, sondern sie am liebsten weiterziehen sieht. Der Kanton sei aber mit den 3000 bis 5000 Migrant*innen, die sich derzeit hier aufhielten, ziemlich überfordert. An der sogenannten Entitätengrenze zur Republika Srpska soll deshalb die Polizei verhindern, dass weitere Migrant*innen in den Kanton kommen.
Nachdem sie monatelang Menschen auf offener Strasse versorgten, haben die findige Sanela und ihr Vater nun eine Raststation geschaffen. Auf einem kleinen Parkplatz haben sie einen Sanitätscontainer eingerichtet und eine kleine, gut isolierte Unterkunft für durchreisende Migrant*innen gebaut. Mit der Polizei sei abgemacht, dass Migrant*innen sich hier 24 Stunden aufhalten dürften, pausieren, übernachten, etwas Kleines kochen können. Sanela erzählt, dass die Menschen manchmal sogar auf Decken am Boden schliefen, weil der Platz für mehr als zwölf Leute nicht reiche. Durchschnittlich 15 Migrant*innen kämen hier täglich vorbei. Die Polizei habe mittlerweile eingesehen, dass sich die Migrant*innen ohne diesen Rastplatz in der Stadt Kljuc aufhalten würden, was zu Unruhe unter der Bevölkerung führen könne. Sie lassen Sanela gewähren. Allerdings ist die Abmachung an Sanelas Person gebunden: Was passiert, wenn sie einmal ausfallen sollte?
«Help now»
Diese mutigen Bosnier*innen fallen auf, die sich die Hilfe nicht verbieten lassen. Nach Schätzungen sollen 80 Prozent der Helfenden Frauen sein. Stefan Dietrich berichtet von einer alten Frau, die er für ein wissenschaftliches Projekt interviewt hat und die heute Migrant*innen unterstützt. Im Interview habe sie gesagt: Niemand könne ihr verbieten, Menschen in Not Essen und Trinken zu geben. Das sei bereits im Zweiten Weltkrieg eine Maxime gewesen. Ähnlich argumentieren andere Bosnier*innen: Während des Krieges 1992-1995 sei niemand verhungert, und sie würden auch jetzt niemanden an Hunger sterben lassen. Fast alle, die wir getroffen haben, waren während des Krieges in Bosnien-Herzegowina selbst Flüchtlinge.
Dabei geht es für sie oftmals nicht darum, ausgemusterte Kleider zu sammeln oder am Monatsende übriges Geld zu spenden. Das haben die Wenigsten, die nicht als Kriegsprofiteur*innen durchs Leben gehen. Die Freiwilligen, die wir antreffen, verwenden einen grossen Teil ihrer Zeit darauf, die Durchreisenden zu versorgen, nehmen sich dafür von der Arbeit frei und riskieren, angezeigt zu werden. Eine Helferin wurde mit einer Gehaltskürzung von 30 Prozent bestraft, weil sie zu viele Migrant*innen in einem Hostel untergebracht hat.
Der Aargauer Stefan Dietrich, mit dem wir diese Reise machen, ist sehr gut im ehemaligen Jugoslawien vernetzt, kann die politische Landschaft bestens einschätzen und weiss als Slavist und Geschichtslehrer vieles aus der Geschichte Bosnien-Herzegowinas und seiner Nachbarrepubliken. Mit seinem Projekt «Help now» unterstützt er die Helfer*innen in Bosnien-Herzegowina. Zusammen mit den bosnischen Aktivist*innen kauft er jene Dinge ein, die es gerade am Dringendsten braucht: An einem Ort sind es feste Schuhe und Hosen, an einem anderen auch noch Lebensmittel. Im Februar hat er dafür erneut 24 000 Franken, die er in der Schweiz gesammelt hat, übergeben können.
«Gracija»
Eine Gruppe, mit der wir Einkäufe tätigen und die uns zum Verteilen zu migrantischen Squads mitnimmt, sind aktivistische Frauen in Sarajevo. Sie haben sich zu einer Gruppe zusammengetan, wollen aber bewusst keine Organisationsstrukturen aufbauen. Sie gehen alle noch einer Arbeit nach, haben Familie, und dennoch versorgen sie täglich aus einer kleinen Garage heraus Migrant*innen, die nicht in Camps untergebracht sind, mit Lebensmitteln, Kleidern, Schlafsäcken und einfachem medizinischem Material.
Während sie und ihr Engagement von der bosnischen Frauenzeitschrift «Gracija» im Februar 2020 portraitiert werden, fällt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg am 14. Februar 2020 ein fatales Urteil: An der Grenze zwischen Marokko und Spanien bei Melilla sei es erlaubt, Menschen ohne die Möglichkeit, ein Asylgesuch zu stellen, zurückzuschieben. Das kommt einer faktischen Legalisierung von Pushbacks gleich. Die Folgen dieses Urteils werden sich auch auf die Grenze zwischen BosnienHerzegowina und Kroatien auswirken. Aber es formiert sich bereits internationaler Widerstand. Solange die EU und die Schweiz sich weigern, sich deutlicher gegen die Menschenrechtsverletzungen Kroatiens zu wenden und die Situation der Migrant*innen in Bosnien-Herzegowina zu verbessern – und zwar nicht, indem sie der IOM, Frontex und den jeweiligen Polizeien das Budget aufstocken und damit zur Militarisierung der gesamten Gesellschaft beitragen – zeigen wir uns solidarisch mit den Menschen in Bosnien-Herzegowina, die die Lage der Migrant*innen zu lindern suchen, wo sie können.
Jana Häberlein, Sozialwissenschaftlter*in, Mitglied bei kritnet – kritische Migrations- und Grenzregimeforschung und Co-Präsident*in der Anlaufstelle für Sans-Papiers Basel
*Name auf Wunsch geändert