Die Berner Beratungsstelle für Sans-Papiers ist fünfzehn Jahre alt. Wer versucht, die migrations- und asylpolitischen Entwicklungslinien in diesen anderthalb Jahrzehnten aus menschenrechtlicher Perspektive nachzuzeichnen, findet wenig Anlass zum Jubeln, aber umso mehr Gründe, trotzdem weiterzumachen und sich nicht beirren zu lassen.
Das Ausländergesetz
Seit 2001 war über das Gesetz diskutiert worden, am 15. Dezember 2005 verabschiedete das Parlament das Ausländergesetz (AuG) und vollzog damit definitiv die rechtliche Trennung zwischen EU-Ausländer*innen, für die seit 2001 das Freizügigkeitsabkommen gilt, und jenen aus Nicht-EU-Ländern, für die es nun das Gegenteil von Freizügigkeit gab: Aufenthalt zu Arbeitszwecken nur noch für die Migrationselite und Hindernisse im Familiennachzug – nur in den ersten fünf Jahren und nicht mehr für Kinder über 18 Jahre. Schon mit dem Zwangsmassnahmengesetz von 1994 war eine ganze Reihe neuer polizei- und strafrechtlicher Elemente im Ausländerrecht verankert worden, die das Parlament nun verschärfte: die Regelungen über die illegale Einreise und den illegalen Aufenthalt sowie deren «Förderung», die nun auch dann strafbar sein sollte, wenn sie ohne Gewinnabsicht erfolgt; die Ein- und Ausgrenzungen sowie die Administrativhaft, die nun bis zu 24 Monate dauern durfte.
Im September 2006 besiegelte das «Stimmvolk» sowohl das AuG als auch eine neuerliche Teilrevision des Asylgesetzes.
Das Asylgesetz
Die Verschärfung des 1998 totalrevidierten Gesetzes, die das Parlament im Dezember 2005 beschloss, hatte es in sich: Asylsuchende, die nicht innerhalb von 48 Stunden Identitätspapiere vorweisen konnten, erhielten nun einen Nichteintretensentscheid (NEE). Das Nothilfesystem, das seit 2004 für Asylsuchende mit NEE galt, wurde nun auf alle Abgewiesenen ausgedehnt. Parallel zur Gesetzesänderung wurde das Asylsystem heruntergefahren: Bundesrat Blocher und sein Bundesamt gingen von nur noch höchstens 12‘000 Asylgesuchen pro Jahr aus. Als die Teilrevision 2008 in Kraft trat, wurde dieser Grenzwert erstmals überschritten – Bund und Kantone mussten nach neuen Unterkünften suchen.
Es war keineswegs die letzte Asylgesetzrevision. 2012 verabschiedete das Parlament «dringliche Änderungen des Asylgesetzes»: die Abschaffung des Botschaftsasyls, den Asylausschluss für Kriegsdienstverweigerer und Deserteure sowie die Testphase für die Neustrukturierung des Asylbereichs, über die bereits seit 2011 debattiert wurde. Mit einer weiteren Revision des Gesetzes segnete das Parlament 2015 die neue Struktur ab: 60 Prozent der Asylgesuche sollen im Schnellverfahren mit äusserst kurzen Fristen in grossen Zentren abgeschlossen werden. Diesmal war es die SVP, die das Referendum ergriff, weil sie gegen die «Gratisanwälte», sprich: die kostenlose Rechtsvertretung, ist. Seit März 2019 gelten die neuen Regelungen.
Die Europäisierung
Im Juni 2005 nahmen die Schweizer*innen den Beitritt des Landes zu Schengen und Dublin an – in der irrigen Hoffnung, etwas zur Öffnung des Landes beizutragen. Ende 2008 traten die Assoziationsverträge in Kraft. Statt einer Öffnung und eines Endes der Grenzkontrollen gab es deren Flexibilisierung und Verlagerung. Das Grenzwachtkorps kontrolliert heute auch im Inland, z.B. in Zügen auf der Ost-West- und der Nord-Süd-Achse, und mehr denn je aufgrund äusserlicher Merkmale (Racial Profiling). Vor allem das Dublin-System wird von der Exekutive als Erfolg bewertet: In den ersten zehn Jahren sah sich die Schweiz durchgängig bei rund einem Drittel der jährlichen Asylgesuche als unzuständig an. Insgesamt fast 30‘000 Asylsuchende wurden tatsächlich in andere Dublin-Staaten ausgeschafft.
Mit den Assoziationsverträgen war die Sache nicht getan. Die Schweiz hat seit 2005 die ständigen Erweiterungen des Schengen- und des Dublin-Acquis übernehmen müssen. Dazu gehörte z.B. die Frontex-Verordnung in ihren Versionen von 2004, 2007, 2011 und 2016. Für die jüngste Version von 2019, die der Europäischen Grenz- und Küstenwache eine ständige Reserve von 10‘000 Beamt*innen verschafft, hat der Bundesrat im August 2020 die Botschaft präsentiert. 2010 übernahm die Schweiz die «Rückkehrrichtlinie», die von den solidarischen Organisationen der EU als «directive de la honte» kritisiert worden war. Die Umsetzung im AuG führte dazu, dass die Höchstdauer der Administrativhaft von 24 auf 18 Monate reduziert werden musste.
Die Informatisierung
Bereits seit den 80er Jahren existierten in der Schweiz Informationssysteme, in denen ausschliesslich Ausländer*innen erfasst wurden (ZAR und AUPER). Seit 1988 wurden die Fingerabdrücke aller Asylsuchenden im Automatisierten Fingerabdruck-Identifizierungssystem (AFIS) erfasst. 2006 nahm man das neue Zentrale Migrationsinformationssystem (ZEMIS) in Betrieb, in dem nun sämtliche Ausländer*innen und Asylsuchende erfasst sind und auf welches alle Polizei- und Staatsschutzbehörden Zugriff haben. Eine Abfrage im ZEMIS führt übrigens automatisch zu einer Abfrage des Fahndungssystems RIPOL.
Weitere Schübe der Informatisierung brachten Schengen und Dublin. Seit 2008 hat die Schweiz Zugriff auf das Schengener Informationssystem (SIS) und auf Eurodac, in dem die Fingerabdrücke von Asylsuchenden und «illegal» aufhältlichen Personen gespeichert werden. Eurodac war das erste biometrische System. 2013 kamen weitere hinzu: das SIS der zweiten Generation (SIS II) und das Visa-Informationssystem (VIS), in dem Fotos und Fingerabdrücke sämtlicher Personen erfasst werden, die im Schengenraum ein Touristenvisum beantragen. Derzeit erfolgt ein neuerlicher Ausbau dieser Systeme: Im neuen SIS müssen alle Ausschaffungen und Einreisesperren erfasst werden – auch die bloss ausländerrechtlichen. Neu aufgebaut wird ein Ein- und Ausreisekontrollsystem, in dem nicht nur visumspflichtige, sondern auch befreite Personen bei der Einreise mit ihren Fingerabdrücken erfasst werden. Wird die Ausreise nicht fristgerecht erfasst, gilt die Person als «Overstayer». Im VIS möchte die EU künftig auch längerfristige Aufenthaltsbewilligungen erfassen. Und schliesslich sollen sämtliche Schengener Systeme mit einer gemeinsamen biometrischen Basis «interoperabel» gemacht werden. Von Datenschutz kann keine Rede mehr sein.
Die SVP
2002 war die SVP mit ihrer Asylinitiative noch knapp gescheitert (49,9 Prozent). 2009 schaffte sie es dagegen mit dem Minarett-Verbot. 2010 folgte die Ausschaffungs- und 2014 die Initiative gegen die «Masseneinwanderung». Die – freundlich ausgedrückt – Nationalkonservativen haben die politische Diskussion über Migrationsfragen dominiert. Und sie konnten das, weil vor allem die anderen bürgerlichen Parteien auf ihren Diskurs eingestiegen sind – erkennbar beispielsweise an der blödsinnigen Debatte über «kriminelle Ausländer»: Nur mit Mühe und Not und gegen die Spitzen von FDP und CVP (Philipp Müller und Gerhard Pfister) konnte bei der Umsetzung der Ausschaffungsinitiative eine Härtefallregelung eingebaut werden.
Ähnliches zeigte sich auch bei Toni Brunners Parlamentarischer Initiative «Scheinehen unterbinden», mit der das Zivilgesetzbuch so geändert wurde, dass Ausländer*innen nur noch mit legalem Aufenthalt in der Schweiz heiraten dürfen. Der Bundesrat begrüsste die Vorlage, die bürgerlichen Parteien stimmten 2009 im Parlament fast geschlossen dafür. 2011 trat die Regelung in Kraft. Immerhin können die kantonalen Migrationsämter für das Ehevorbereitungsverfahren eine Aufenthaltsbewilligung ausstellen.
Wo bleibt das Positive?
Das Positive sind wir – die Migrant*innen und Asylsuchenden, die sich trotz widriger Bedingungen immer wieder auch politisch zu Wort melden; die vielen kleinen solidarischen Gruppen und Organisationen; die Aktivist*innen in den Kirchgemeinden und den Gewerkschaften; die Sans-Papiers-Beratungsstellen, die es mit grossem Einsatz immer wieder schaffen, dass Menschen eine Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz erhalten. Sicher: den migrationspolitischen Turn Around in der Schweiz oder gar in Europa haben wir nicht geschafft. Aber wir rumoren weiter als das schlechte Gewissen dieser Gesellschaft.
Heiner Busch, Solidarité sans frontières
Dieser Artikel wurde originell im Bulletin der Berner Beratungsstelle für Sans-Papiers veröffentlicht.