Die NKVF* begleitete von April-Dezember 2021 33 zwangsweise Flugzeug-Ausschaffungen der Voll-zugsstufe 4, die im neuen Bericht der Kommission zusammengefasst werden. Vollzugsstufe 4 bedeutet: Weil zu erwarten ist, dass sich die betroffene Person stark wehrt, findet die Ausschaffung via Sonderflug statt. Mindestens zwei Polizist:innen pro Person begleiten den Flug und «Handfesseln, andere Fesselungsmittel sowie körperliche Gewalt» sind explizit erlaubt. Von den von der NKVF begleiteten Ausschaffungen waren 130 Personen, darunter sechs Familien mit ,15 Kindern betroffen.
Die Kommission spricht in ihrem Jahresbericht von einem insgesamt «professionellen» und «respektvollen» Umgang vonseiten der Polizei. Doch dieses Urteil kommt mit einem grossen aber.
In drei der beobachteten Fälle mussten Kinder mitansehen wie gegenüber ihren Eltern Zwangsmassnahmen angewendet wurden – vor und während dem Flug. In einer anderen Situation war ein Kind genötigt, für seine Eltern zu übersetzen. Zudem kam es bei einer vierköpfigen Familie zu einem Grossaufgebot der Polizei. Diese legte einer schwangeren Frau Handschellen an und zwang sie, ihr Kleinkind in Handschellen zu stillen. Ebenfalls notiert die Kommission in ihrem Bericht, dass vermummte Polizisten eine vollgefesselte Person im Zellenwagen an den Flughafen transportierten. Bei der Hälfte aller Fälle notierten die Beobachter:innen eine Teilfesselung vor dem Flug. Dabei wurden selbst kooperative Betroffene regelmässig teilgefesselt. In 15 Fällen wurde eine Vollfesselung angewendet, in sechs von diesen Fällen zudem ein Sparringhelm. Weiter stellt sich die NKVF in ihrem Bericht erneut klar gegen die Praxis der COVID-Zwangstest.
Die technische, an den Behördensprech angelehnte Sprache des Berichts macht leider nur schwer erkennbar, mit welcher Gewalt diese Rückführungen verbunden sind. Voll- und Teilfesselung, Anwendung von körperlicher Gewalt, Helme, Spucknetze und Zwangstests: das Rückführungsregime wendet schwere Zwangsmassnahmen an – wie der Bericht aufzeigt oft gegenüber Eltern in Anwesenheit ihrer Kinder. Das, nachdem die Betroffenen wohl oft schon Tage, Wochen oder Monate entweder eingesperrt waren oder sich vor der drohenden Ausschaffung fürchteten. Diese Form der Rückführungen gehen auch mit einem Prozess der Entmenschlichung einher: wenn Einzelpersonen, wohl oft junge Männer, vollgefesselt, von vermummten Polizist:innen zu einem Flugzeug geführt werden, dann macht sie das zur Gefahr. Das, während dem ihr Hauptvergehen ein mangelnder Aufenthaltstitel ist.
In den Augen von Sosf zeigt dieser Bericht zwei Probleme auf: die unglaubliche Gewalt mit der ein immer strikteres Ausschaffungsregime durchgesetzt wird und die Rolle der NKVF als rechtsstaatliches Feigenblatt.
Am Anfang der Zusammenfassung der beobachteten Rückführungen werden die Vollzugsbehörden für ihr Verhalten «gelobt»: Ihnen wird grundsätzlich ein «professioneller und respektvoller Umgang» mit den zurückzuführenden Personen attestiert. Danach werden aber – aus unserer Sicht schwerwiegende – Kritiken über das Verhalten des Vollzugspersonals, d.h. die jeweilige Kantonspolizei und das Sicherheitspersonal an den Schweizer Flughäfen Zürich, Genf und Bern, laut.
Weiter fällt auf, dass die NKVF manche Kritik wiederholt, wenn sie in ihrem Bericht festhält, sie habe dasselbe Verhalten der Behörden im Einzelfall beobachtet, das es schon früher gab. Das ist gravierend, weil dabei in manchen Einzelfällen nicht nur die Vorschriften der «Verordnung über die Anwendung polizeilichen Zwangs und polizeilicher Massnahmen im Zuständigkeitsbereich des Bundes» , sondern auch Art. 27 des «Bundesgesetzes über die Anwendung polizeilichen Zwangs und polizeilicher Massnahmen im Zuständigkeitsbereich des Bundes» verletzt wurden. Dies betrifft insbesondere jene Fälle, in denen die betroffenen Personen nicht wie gesetzlich vorgeschrieben im Voraus über ihre Ausschaffung detailliert in einer ihnen verständlichen Sprache informiert worden sind.
Weiter gab es auch mehrere Fälle von unangemessener Gewaltanwendung der Behörden und/oder Verletzungen der Würde von Betroffenen durch abwertende Sprüche und Gesten. In solchen Fällen ist es allerdings weniger eindeutig, dass gesetzliche Vorgaben über die Zwangsan-wendung verletzt worden wären. Das, weil Gesetz und Verordnung einerseits verhältnismässige Gewaltanwendung – auch mit Hilfe von körperlicher Gewalt sowie Zwangsmitteln wie Handschellen, Kabelbindern, Zerberus-Gurten, Sparring-Helm und Spucknetz – erlauben und anderseits die Angemessenheit der Gewaltanwendung nur im Einzelfall beurteilt werden kann.
Die Kommission gibt Kritik, Denkanstösse und Empfehlungen an die Vollzugsbehörden ab. Sie können sich dazu äussern, sind aber nicht gesetzlich verpflichtet, den Empfehlungen der NKVF auch Folge zu leisten. Dies ergibt sich aus den zitierten gesetzlichen «Befugnissen» der NKVF. Das wirft zunächst die Frage auf, ob die NKVF nicht bloss ein rechtsstaatliches Feigenblatt darstellt. Vieles spricht dafür, jedoch ist trotzdem davon auszugehen, dass die regelmässigen Beobachtungen behördlicher Zwangsausübung und die Veröffentlichung von Berichten darüber eine präventive Wirkung entfalten könnte. Dies ist aber schwierig zu messen. In der Öffentlichkeit fand der eigentlich brisante Berichte kaum Beachtung: In der Schweizerischen Mediendatenbank finden sich nur eine Hand voll Artikel zum Bericht. Inwiefern die NKVF-Untersuchungen bei den Behörden direkt Einfluss nimmt, ist ebenfalls schwierig abzuschätzen.
Doch klar erkennbar ist die Tendenz, dass staatliches Handeln in der Schweiz immer öfter von formell „unabhängigen“ Kommissionen beobachtet, kommentiert und kritisiert wird. Im Bereich der Migrationspolitik aktiv sind nicht nur die NKVF, sondern z.B. auch die Eidg. Migrationskommission EKM oder etwa die Eidg. Kommission gegen Rassismus EKR. Allen Aktivitäten dieser Kommissionen ist gemeinsam, dass sie zwar zur Information über Grundrechtsverletzungen von Seiten staatlicher Organe beitragen. Leider werden diese vor allem von NGOs und von der Zivilgesellschaft themati-siert, aber weder von den Medien, noch von der offiziellen Politik entsprechend wahrgenommen und als Anstösse zur Verhinderung von Grundrechtsverletzungen und zum Ausbau des Rechtsschutzes verwendet.
(pf, ln)
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*Die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) hat ihre völkerrechtliche Grundlage im UN-Fakultativprotokoll zur Verhütung von Folter und ist national im Bundesgesetz vom 20. März 2009 über die Kommission zur Verhütung von Folter geregelt. Sie ist eine behördenunabhängige Kommission. Sie untersucht und tritt in den Dialog mit unterschiedlichen Akteuren, bearbeitet aber keine Beschwerden von Einzelpersonen. Sie ist keine Ombuds- oder Beschwerdestelle. Neben regelmässigen Besuchen von Gefängnissen, psychiatrischen Kliniken und Bundesasylzentren begleitet die NKVF seit 2012 zwangsweise Ausschaffungen von Ausländer:innen auf dem Luftweg und veröffentlicht dazu jährliche Berichte, einsehbar auf ihrer Internetseite.