von Anni Lanz*
Wenn Inländer über Ausländer sprechen, unterscheiden sie in der Regel zwischen gut und böse. «Gute» Zuwanderer sind reiche und hochqualifizierte Personen. Ebenfalls zu den «Guten» gehören die besonders willfährigen, die klaglos für wenig Geld die von Inländern verschmähte Arbeit erledigen. Migranten gelten dann als «gut», wenn sie erheblich zum Schweizer Wohlstand beitragen. Ist Migrationspolitik dann erfolgreich, wenn sie die «Guten» einlässt und die «Bösen» wegschickt, wie dies mittlerweile nicht nur die politisch Rechte fordert?
Erfolg ist eine Frage der Perspektive. Eine ganz andere Perspektive haben Unterschichtsmigranten: Die Armutsflüchtlinge, die wir oft despektierlich «Wirtschaftsflüchtlinge» nennen, sind die eigentlichen Garanten in der globalen Armutsbekämpfung. Die sogenannten Remissen – Überweisungen der Ausgewanderten an ihre daheim gebliebenen Angehörigen – sind fast die einzige Ressourcenumverteilung zugunsten der Armen dieser Welt. Für manche Länder sind sie ein unverzichtbarer Teil des Volkseinkommens. Die Weltbank errechnet jedes Jahr die Summe dieses Geldflusses von den reichen in die armen Länder: Im Jahr 2013 waren es 414 Milliarden US-Dollar – unvorstellbar viele kleine und kleinste Einzelüberweisungen, die an bedürftige Familien fliessen. Die Summe übersteigt die weltweite Entwicklungshilfe um ein Mehrfaches und steigt jährlich markant an. Die Remissen fliessen antizyklisch und landen nicht auf den Konten korrupter Politiker. Die «Wirtschaftsflüchtlinge» in der Schweiz und anderswo sichern so ein gewisses Niveau an Wohlfahrt in ihren Herkunftsländern. Diese Optik teilt auch die Weltbank – allerdings ohne die erniedrigenden Lebensbedingungen der betroffenen Migrantinnen und Migranten zu beanstanden.
Diese Unterschichtsmigranten arbeiten zu bescheidenen bis prekären Löhnen. Sie streben nicht nach der Maximierung ihres eigenen Profits – ihre Logik ist auf das Wohlbefinden ihrer Angehörigen in den Herkunftsländern ausgerichtet, auf deren Schulund Ausbildung, Gesundheit und weiteres Existenzielles mehr. Die Zurückgebliebenen wiederum übernehmen die Betreuung und medizinische Versorgung der betagten Angehörigen sowie der daheim gebliebenen Kinder und investieren einen Teil der Geldüberweisungen in sichere Güter – Landerwerb, Hausbau, landwirtschaftliche und kleinbetriebliche Produktionsmittel – mit dem Ziel, die Existenzgrundlage des familiären Netzes längerfristig zu sichern.
Gibt es eine alternative Migrationspolitik?
Wären die familiären Verpflichtungen der Migranten aus ärmeren Verhältnissen nicht so bindend und stünden bloss individuelle Eigeninteressen im Vordergrund, würden sie nicht sämtliche Ersparnisse laufend an ihre Angehörigen überweisen. Sie würden ihr Einkommen selber ausgeben oder auf einem Bankkonto ansammeln, wie viele der Oberschichtsmigranten es tun. Hinter jedem Migranten und jeder Migrantin aus ärmeren Verhältnissen stehen mehrere Personen, die von den Lohnüberweisungen für ihre Grundbedürfnisse abhängen. Schätzt man heute die Migranten auf rund drei Prozent der Weltbevölkerung, so muss man diese Zahl vervielfachen, um eine Vorstellung davon zu gewinnen, wie viele Menschen weltweit von der Arbeitsmigration abhängig sind. In den Einwanderungsländern wiederum, zum Beispiel in der Schweiz, verrichten Migrantinnen häufig Care-Arbeit – etwa als Pflegerin, Betreuerin, Reinigungspersonal, Hausangestellte, Ehefrau oder Sexarbeiterin. Seit die Schweiz die Einwanderung zu begrenzen versucht, streitet die Linke über eine alternative Migrationspolitik. Für welche der beiden angeführten Optiken sollen sie sich entscheiden – jene der Wohlhabenden und der abgesicherten Inländer? Oder jene der Arbeitsmigranten, die unter prekären Bedingungen die Drecksarbeit erledigen? Lässt sich ein Mittelweg finden?
Immer wieder brachte die Linke Migrations- und Asylkonzepte ins Spiel, die nicht nur den Verfolgten, sondern auch den Armutsflüchtlingeneine Einreisechance einräumen sollten. So wurde wiederholt vorgeschlagen,allen einen bestimmten Zeitraum zuzugestehen, in dem siesich hier eine Arbeit suchen können. Wer keine findet, muss wieder gehen. Selektion ist immer verbunden mit Härte, Sanktionen, Ausgrenzung und Abschreckung der nicht Auserwählten. Sollte es also der Arbeitsmarkt sein, der diese an sich fragwürdige Selektion vollzog? Den Selektionsgegnern wiederum wurde entgegengehalten, dass die Ansässigen vom Sozialstaat geschützt sein wollten, der aber stets an einen nationalen Rahmen gebunden sei und nicht unbegrenzt Leistungen erbringen könne. Also brauche es eine Selektion, um Sozialleistungsempfangende zu begrenzen.
Nationalistische Illusionen
In der Realität ist es die Optik der Unterschichtsmigranten, die sich durchsetzt – und nicht jene der Behörden und Politiker. Wer lässt sich schon vorschreiben, in Elend und Armut auszuharren? Abschreckungsmassnahmen richten da wenig aus.
Nationalistisch Gesinnte behaupten oft, sie würden mit der Demaskierung von «Schmarotzer-Migranten» ein Tabu brechen. Ihren Gegnern werfen sie so vor, die Migration schönzureden. Das führt uns zurück zu der eingangs angeführten Einteilung in gute und schlechte Migranten. Sie ist eine Falle. Migranten sind weder besser noch schlechter als die Ansässigen, doch geraten Migrationsverteidiger in einem nationalistisch geprägten Umfeld stets unter Druck, sich diesem polarisierenden Bilderzwang zu beugen.
Wenn Linke sich öffentlich über Migranten und Asylsuchende äussern, beschreiben sie sie oft etwas überhöht und heben deren gesellschaftlichen Nutzen hervor. Als ob sie ihren Anspruch auf Menschenrechte mit besonderen Leistungen rechtfertigen müssten. Menschenrechte sind nicht an eine Gegenleistung oder bestimmte Eigenschaften gebunden. Sie stehen jeder Person allein aufgrund ihres Menschseins zu. Dies ist das Besondere am Konzept der Aufklärung. Es steht heute in Gefahr – und im Widerspruch zur staatlichen Zulassungs- und Wegweisungskompetenz über Ausländer.
Der heutige Migrationsdiskurs baut auf zwei nationalistischen Illusionen auf: dem Irrglauben, Einheimische seien besser als «die anderen» und besser dran nur unter sich. Wir Einheimischen seien selbstgenügsam und bescheiden und müssten unsere unbefleckte Eigenart vor allem Fremden bewahren. Und zweitens auf dem Mythos, dass die Schweiz nichts zu tun hat mit Kolonialismus, postkolonialer Bevormundung und Apartheid.
Die Armut, nicht die Armen bekämpfen
Der Umgang mit nationalistischen Zerrbildern erfordert einerseits Unerschrockenheit, anderseits einen kreativen Umgang mit Sprache und anderen Ausdrucksformen. Die Formulierung «Kollektive Regularisierung aller Sans-Papiers» oder reichlich ausgeteilte Rassismusbezichtigungen führen unweigerlich in eine kommunikative Einbahnstrasse. Man kann jedoch nach anderen Begrifflichkeiten und Bildern suchen, die vielleicht sogar präziser sind als die abgegriffenen Schlagworte, die wie Etiketten an den Kontrahenten hängen bleiben. Wer aus einer Minderheitsposition heraus politisiert, braucht viel Kreativität, um überhaupt wahrgenommen zu werden. Eine solche Widerspenstigkeit lässt sich in der Regel bloss aus einer gewissen Abgeschiedenheit oder Distanz heraus entwickeln. Wenn ich eben gerade nicht das sage, was mein Gegenüber von mir erwartet, wird er von einer neuen Idee, einem neuen Ausdruck überrumpelt und kann nicht auf sein ausgeleiertes Repertoire zurückgreifen.
Niemand ist im Besitz der absoluten Wahrheit. Sehr wohl aber lassen sich vermeintliche Wahrheiten widerlegen. Wer die Migrationsursachen in den Mechanismen sucht, die uns Wohlstand bringen und anderen Wohlstand wegnehmen, macht sich nicht beliebt, gewinnt keine Wählerstimmen und generiert keine Spenden. Gegen diese Ursachen wird bestenfalls halbherzig Widerstand leisten, wer von Arbeitsplätzen, Gewinnen und Abgaben profitiert, die hiesige Firmen dank günstiger Steuerbedingungen hier sowie unterbezahlter Ressourcen und Arbeitskräfte in den Herkunftsländern erzielen. Wer sich für bescheiden und rechtschaffen hält, lässt sich ungern vorhalten, über seine Verhältnisse zu leben.
Auch wenn es schwierig ist, kompromisslos Migrationsursachen zu bekämpfen, müssen wir stets vor Augen haben: Die Armut, nicht die Armen sind zu bekämpfen. Dies gilt auch gegenüber den Unterschichtsmigranten bei uns. Sie gut auszubilden und beruflich zu fördern wäre die effizientere Armutsbekämpfung als millionenteure Wohltätigkeitsprojekte im Herkunftsland. Mit einem Engagement für Chancengleichheit für alle, unabhängig vom Geschlecht und von der Herkunft, leisten wir auch hier einen Beitrag zur Armutsbekämpfung in der Welt. Mit vereinten Kräften gegen Abschreckungsmassnahmen wie Arbeitsverbote, Illegalisierungsregeln oder Ausschaffungshaft vorzugehen und für besseren Zugang zur Berufsausbildung für alle einzustehen, stärkt diejenigen, die ganz konkret etwas gegen die Armut in ihrer Heimat unternehmen.
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*Autorin: Anni Lanz ist die ehemalige Generalsekretärin und heute Vorstandsmitglied von Sosf. Sie setzt sich seit bald 30 Jahren für Flüchtlinge in der Schweiz ein und hat unter anderem das preisgekrönte «Basler Modell» für Sans-Papiers mitbegründet. Ausserdem besucht sie regelmässig Ausschaffungshäftlinge und unterstützt diese bei der Ausbildung, nachdem sie die Schweiz verlassen haben.
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Der Text «Migrationspolitik jenseits von Gut und Böse» ist auch im Suprise 323/14 erschienen