Schon der Auswahlprozess selbst ist empörend. ExpertInnen führen in einem Flüchtlingslager «castings» (das war der in dem Bericht benutzte Begriff) durch, um aus einer vom UNHCR bereits vorselektionierten Gruppe die «Verletzlichsten» herauszupicken. Wie misst man die Abstufungen des menschlichen Elends? Was müssen die Betroffenen erlebt haben, um als «besonders verletzlich» klassifiziert zu werden? Was ist beispielsweise mit der «Verletzlichkeit» jener Frauen, denen die Ausschaffung aus der Schweiz in Länder droht, wo sie zuvor Opfer von Frauenhandel waren? Die Schweiz feierte (sich) im vergangenen November, dass sie Geflüchtete den Krallen libyscher Schlepper entrissen habe. Die Menschen wurden anschliessend in den Niger, eines der ärmsten Länder Afrikas, gebracht – in Lager, denen sie nur entkommen können, wenn sie in einem/r schweizerischen Experten/Expertin genügend Mitleid erwecken. Die Schweiz erniedrigt diese Menschen erneut, indem sie sie zwingt, zum x-ten Mal ihre Geschichte zu erzählen. Wer beim «Casting» durchfällt, dem oder der wird die Hilfe verweigert – mit der Begründung, dass sein/ihr Leidensweg nicht tragisch genug gewesen sei. Dabei ist hinreichend bekannt, dass bestimmte Erlebnisse von Gewalt, insbesondere sexualisierter Gewalt, kaum kommunizierbar sind und dass die Erzählung solcher Erlebnisse häufig das Trauma wieder aufleben lassen.
Was soll man ferner dazu sagen, dass nach der ersten Auswahl die Identität jeder Kandidatin und jedes Kandidaten genauestens unter die Lupe genommen wird, um sicherzustellen, dass es bei ihnen keinen Verdacht von «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» gibt? Ein Vorgehen, das vor allem deshalb erstaunlich ist, weil dieselbe schweizerische Regierung sich eine solche Mühe erspart, wenn es darum geht, auf ihrem Territorium multinationale Konzerne zu beherbergen, die in den Handel mit Waffen verstrickt sind – manchmal genau in jenen Regionen, vor deren Konflikten und Kriegen jene Menschen fliehen, denen das SEM die seltene Gnade erweist, sie in der Schweiz zu «resettlen». Eine Gnade, die freilich an die Bedingung geknüpft ist, dass sie hier ein «Integrationsprogramm» durchlaufen. Der Anstand würde es gebieten, diesen Menschen vor allem die Gelegenheit zu geben, sich von ihren Traumatiserungen zu erholen, ihr Leben wieder aufzubauen und sich wieder als Menschen fühlen zu können, statt ihnen beizubringen, dass es zum Leben in der Schweiz gehört, pünktlich zu sein und Fondue zu mögen.
Fragwürdig ist aber nicht nur die Auswahlmission selbst, sondern auch ihre mediale Aufbereitung: Die Scheinwerfer richten sich auf die 80 Resettlement-KandidatInnen, während zur gleichen Zeit die Aquarius auf hoher See blockiert ist – mit 629 Personen an Bord, die niemand und schon gar nicht die Schweiz aufnehmen will. Ausserhalb des Lichts der Scheinwerfer bleiben auch jene Mutter und ihre zwei Kinder, die mitten in der Nacht ausgeschafft werden, während der Mann und Vater im Spital ist und von dem Ganzen nichts erfährt.
Diese heuchlerische Mediatisierung hat unseres Erachtens einen weiteren perversen Effekt: Aus ihr klingt dasselbe ewige Lied, das die Asyldebatten in Europa seit langem beschallt : das Lied von den echten Flüchtlingen und den unechten. In diesem Liedtext reicht es nicht, vor Not, Krieg und Gewalt zu fliehen. Geflüchtete müssen zeigen, dass sie bessere Menschen sind, und versprechen, dass sie allenfalls zu Beginn ihres Aufenthalts in der Schweiz Sozialhilfe in Anspruch nehmen, um ja nicht in den Geruch zu kommen, doch nur WirtschaftsmigrantInnen zu sein, die die Schweiz ausnützen. Gute MigrantInnen – so sagt das ewige Lied – arbeiten hart, machen Bergwanderungen und wissen, wie und wofür man ein Schweizer Messer benutzt. Sie erweisen sich der Gnade und des Schutzes würdig, die ihnen das SEM zuteil werden lässt. Für uns hat es dagegen keinen Sinn, zwischen guten und schlechten MigrantInnen zu unterscheiden. Wir sehen vielmehr, dass die Festung Europa Tag für Tag Menschen bricht, misshandelt oder gar tötet. 80 von ihnen zu retten und allen anderen Misstrauen entgegen zu bringen, ist eine Beleidigung für die viel beschworene humanitäre Tradition der Schweiz, mit der Bundesrätin Sommaruga regelmässig an der medialen Front präsent ist.
Solidarités sans frontières weist die mediale Operation des SEM zurück und fordert stattdessen, allen Menschen auf der Flucht Schutz zu geben – jenseits der medienwirksamen Meriten. Mehr Menschen müssen in die Schweiz umgesiedelt werden – ohne bürokratische Formalitäten und ohne einen erniedrigenden und unnützen Auswahlprozess. Mehr noch: wenn dem Bundesrat sein Credo der «Hilfe vor Ort» wirklich am Herzen liegt, dann muss er etwas tun gegen die Ursachen der Kriege und Konflikte, und nicht gegen deren Opfer. Um diesen und anderen Forderungen Nachdruck zu verleihen, gehen wir am morgigen Samstag, 16. Juni, unter dem Motto «Zwischen uns keine Grenzen» auf die Strasse. Treffpunkt : Bern, Schützenmatte, 14 Uhr.
|