Im Jahre 2010 erkannte die Schweiz Mehmet Yesilçali als Flüchtling an, weil er in der Türkei acht Jahre lang aus politischen Gründen inhaftiert war – unter anderem wegen seiner angeblichen Mitgliedschaft in der TKP/ML. Nun soll er aus denselben Gründen nach Deutschland ausgeliefert werden.
Am 15. April 2015 wurde Mehmet Yesilçali in seiner Wohnung verhaftet und sitzt seitdem im Freiburger Gefängnis in Auslieferungshaft. Bis zum Redaktionsschluss dieses Bulletins (15. Mai) durfte ihn nicht einmal seine Familie besuchen. Yesilçalis Verhaftung ist Teil einer von der deutschen Bundesanwaltschaft initiierten Aktion gegen Mitglieder der «Konföderation der Arbeiter aus der Türkei in Europa» (ATIK). Sieben weitere Personen wurden in Deutschland, drei in Griechenland und eine in Frankreich verhaftet. Sie werden der «Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland» beschuldigt (§ 129 a und b deutsches Strafgesetzbuch).
- MigrantInnenorganisation unter Terrorismusverdacht
Vorgeworfen wird Yesilçali nicht etwa die Beteiligung an einem Anschlag, wie es der Terrorismusvorwurf vermuten liesse. Vielmehr soll er 2012 in Deutschland an Versammlungen eines angeblichen Westeuropa-Komitee der «Türkischen Kommunistischen Partei/Marxisten-Leninisten» (TKP/ML) teilgenommen sowie bei Abendveranstaltungen in der Schweiz Geld für diese Organisation gesammelt haben. Diese Aktivitäten seien im Namen der ATIK erfolgt, die nichts anderes als eine Tarnorganisation dieser Partei sei. Die TKP/ML habe sich «zum Ziel gesetzt, den türkischen Staat mittels eines ‚bewaffneten Kampfes’ zu beseitigen und durch ein kommunistisches Regime unter ihrer Kontrolle zu ersetzen», behauptet die deutsche Bundesanwaltschaft in einer Presseerklärung. In der Türkei habe die Organisation zahlreiche Anschläge begangen, seit 2007 gemeinsam mit der PKK.
Weder die TKP/ML noch ATIK stehen auf der berüchtigten Liste «terroristischer Organisationen», die die EU seit Ende 2001 führt. Mit ihrem Strafverfahren und den Auslieferungsersuchen übernehmen die deutschen Behörden dennoch einmal mehr die Vorwürfe der türkischen politischen Justiz. Der Terrorismusvorwurf trifft nicht nur die Mitglieder der TKP/ML, von denen viele in Westeuropa als Flüchtlinge anerkannt sind. Kriminalisiert werden auch politische Organisationen von MigrantInnen – in diesem Fall die ATIK.
Die in den 70er Jahren in Deutschland gegründete Konföderation setzt sich für die Rechte der aus der Türkei eingewanderten ArbeiterInnen ein. Zu ihr gehört auch die 1991 ins Leben gerufene «Föderation der ArbeiterInnen aus der Türkei in der Schweiz» ITIF, die sich zu demokratischen Zielen bekennt und sich als antiimperialistisch, antifaschistisch und antirassistisch versteht.
- Wir sind alle ATIK
Die Schweiz hat Mehmet Yesilçali aus guten Gründen Asyl gewährt wird. Sie ist deshalb verpflichtet, ihn gegen weitere politische Verfolgung zu schützen, auch wenn die nicht unmittelbar aus der Türkei, sondern über Umwegen aus Deutschland kommt. Ihm droht in Deutschland ein politisches Strafverfahren. Eine Auslieferung kommt deshalb nicht in Frage. Mehmet Yesilçali ist sofort aus der Haft zu entlassen. Die Meinungs- und Versammlungsfreiheit gelten auch für MigrantInnenorganisationen. «Wir sind alle ATIK», so der Slogan der Solidaritätsbewegung für Mehmet Yesilçali und die weiteren inhaftierten ATIK-Mitglieder in Europa.
Maria Winker
Bulletin Solidarité sans frontières n°2, Juni 2015