Nachdem in der vergangenen Woche erneut Hunderte von Flüchtlingen im Mittelmeer ertrunken sind, hat sich die Vollversammlung von Solidarité sans frontières mit der europäischen Asyl- und Migrationspolitik, dem Dublin-System und der Rolle der Schweiz befasst. Die VV hält fest:
Die aktuelle Debatte leidet unter dem schlechten Gedächtnis der Öffentlichkeit und der Heuchelei der offiziellen Politik sowohl in der EU als auch in den assoziierten Schengen-Staaten wie der Schweiz. Diese Politik präsentiert die Flüchtlingskatastrophen im Mittelmeer als das Werk geldgieriger und skrupelloser Schlepper und lenkt davon ab, dass die systematische Abschottungspolitik Europas sämtliche direkten, legalen und damit sicheren Wege nach Europa verbaut hat. Menschen, die sich vor dem Assad-Regime in Syrien und dem Terror des IS in Sicherheit bringen wollen, die vor der militaristischen Diktatur in Eritrea oder der von europäischen Konzernen miterzeugten in vielen Regionen Afrikas herrschenden Überausbeutung und Not fliehen und in Europa Schutz und eine menschenwürdige Zukunft suchen … sie alle sind – ob sie wollen oder nicht – auf die Hilfe von Schleppern angewiesen. Die EU hat gestern zwar die Aufstockung der Frontex-Missionen Triton (vor Italien) und Poseidon (vor Griechenland) beschlossen. Deren Hauptaufgabe bleibt aber weiterhin der «Grenzschutz». Zugleich liebäugelt sie mit militärischen Abenteuern im Kampf gegen Schlepper.
Die Vollversammlung von Sosf ist sich bewusst, dass die dringend erforderliche Kehrtwende in der europäischen und schweizerischen Asylpolitik Zeit braucht. Das heisst aber nicht, dass die offizielle Schweiz die Hände in den Schoss legen kann. Sie kann und muss jetzt handeln, um ihren Beitrag für das Leben und die Sicherheit von Flüchtlingen zu leisten. Deshalb fordert die VV von Sosf:
- Schnelle Wiedereinführung der Möglichkeit, bei einer Auslandsvertretung der Schweiz ein Asylgesuch zu stellen: EDA und EJPD haben dafür zu sorgen, dass die Botschaften in entsprechenden Ländern mit ausreichend Personal ausgestattet werden, um Asylgesuche schnell und unbürokratisch zu bearbeiten, statt sie wie 2006 in Damaskus und Kairo mit dem Wissen des BFM und des EJPD-Vorstehers rechtswidrig zu schubladisieren.
- Schnelle und unbürokratische Vergabe humanitärer Visa: Die Schweiz kann unabhängig von der Schengener Visumspolitik humanitäre Visa vergeben, die zwar nicht zum Aufenthalt in der EU, aber immerhin in der Schweiz berechtigen. Die im September 2013 erlassene Weisung über die erleichterte Vergabe von Visa an Familienangehörige von hier lebenden SyrerInnen war ein Schritt in die richtige Richtung. Allerdings wurde sie erstens bereits nach mehreren Monaten wieder aufgehoben und zweitens wurde die Visavergabe an SyrerInnen, die sich in den Nachbarstaaten angeblich in Sicherheit befanden, blockiert.
- Keine Rückschaffungen nach Italien: Das Land ist seit geraumer Zeit mit der Aufnahme von Flüchtlingen überfordert. Viele müssen bereits heute in unwürdigen Massenunterkünften oder auf der Strasse überleben. Sosf hat eine entsprechende Petition lanciert. Angesichts der vielen Flüchtlinge, die derzeit in Italien anlanden, muss der Bundesrat nicht auf das Ergebnis dieser Petition warten, sondern jetzt handeln.
- Keine Teilnahme an Frontex-Missionen: Die Rolle der schweizerischen GrenzwächterInnen bestand bisher vor allem in der Erfassung von Flüchtlingen. Diese hat aber zur Folge, dass Flüchtlinge gezwungen sind, in Italien zu bleiben, und kein Asylgesuch in einem anderen Dublin-Staat stellen können.
- Kontingente für syrische Bürgerkriegsflüchtlinge. Solidarité sans frontières hat zusammen mit anderen bereits im Januar gefordert, dass die Schweiz 100‘000 syrische Flüchtlinge aufnehmen soll. Wir haben bei dieser Gelegenheit klargemacht, dass ein solches Kontingent durchaus realistisch ist. Sie gewährleisten, dass die Menschen ohne Gefahr nach Europa kommen können.
Die VV von Sosf fordert den Bundesrat auf bei seinen EU-PartnerInnen für eine grundsätzliche Wende der europäischen Asyl- und Migrationspolitik einzusetzen, u.a.
- Ende des Dublin-Regimes: Es ist offensichtlich, dass die Dubliner Erstasyl-Regelung, nach welcher der zuerst betretene EU-Staat für ein Asylgesuch zuständig ist, gescheitert ist. Die derzeit diskutierte Regelung, Flüchtlinge zwangsweise auf die angeschlossenen Staaten zu verteilen, wird nur ein neues bürokratisches Monster schaffen. Flüchtlinge müssen die Möglichkeit haben, ihr Asylgesuch dort zu stellen, wo sie wollen. Ein «Lastenausgleich» kann finanziell erfolgen, so wie es das EU-Parlament bereits 1988 vorgeschlagen hat («Vetter-Bericht»).
- Neue Visumspolitik: Auf Kriege, Bürgerkriege und Staatsstreiche haben die europäischen Staaten seit den 80er Jahren zunächst jeweils auf nationaler, später auf Schengen-Ebene mit dem Mittel des Visumszwangs reagiert. Sie haben damit Flüchtlingen bewusst den Fluchtweg abgeschnitten. Aus einer menschenrechtlichen Perspektive muss es für die am Schengener Club beteiligten Staaten mindestens möglich sein, aus der Front der Abschottung auszubrechen und den Visumszwang aufzuheben.