NA-BE unter der Lupe: Inhalte, Neuerungen, Auswirkungen
Das Projekt «Neustrukturierung des Asylbereichs im Kanton Bern», kurz NA-BE, wird ab Mitte 2020 den gesamten Asylbereich des Kantons grundlegend verändern. Neu werden maximal fünf regionale Partner die operative Gesamtverantwortung für Unterbringung, Sozialhilfe und Integration von Asylsuchenden, vorläufig aufgenommenen Personen und anerkannten Flüchtlingen wahrnehmen (vgl. AsylNews 4/18). Die öffentliche Ausschreibung für die regionalen Partner lief bis Mitte Januar, der Entscheid folgt Ende April.
In dieser und den kommenden Ausgaben des AsylNews nehmen wir NA-BE genauer unter die Lupe. Was wird sich mit NA-BE für die Geflüchteten im Kanton Bern ändern? Wer sind die Gewinner, wer die Verlierer des neuen Systems? Kann NA-BE den Bedürfnissen der Betroffenen gerecht werden?
Welche Auswirkungen die Bestimmungen auf den Alltag der Betroffenen konkret haben werden, wird sich zwar erst zeigen, wenn NA-BE in die Praxis umgesetzt wird – auch weil die regionalen Partner in vielen Bereichen einen gewissen Ermessenspielraum haben werden. Zudem müssen verschiedene Detailbestimmungen noch geklärt und in Verordnungen festgehalten werden. Trotzdem geben die «Detailkonzeption NA-BE» sowie die «Ausschreibung regionale Partner im Asyl und Flüchtlingsbereich» bereits heute Auskunft darüber, welche Änderungen anstehen. Diese wollen wir in unserem Jahresfokus 2019 etwas genauer anschauen. In der vorliegenden Ausgabe werfen wir einen Blick auf den Bereich Unterbringung, die nächsten zwei Ausgaben widmen sich der Integration bzw. der Sozialhilfe. Dabei wollen wir einerseits einen Überblick zu den Neuerungen unter NA-BE geben, andererseits mögliche Auswirkungen auf die Betroffenen diskutieren. Wer fällt durch die Maschen des auf rasche berufliche Integration ausgerichteten Modells, wer kann davon profitieren? Und wie können Regelungen grundrechtskonform und unter Achtung der Menschenwürde der betroffenen Personen umgesetzt werden?
Grosse Hürden für Auszug aus Kollektivunterkunft
Aufgrund der Neustrukturierung des Asylbereichs auf Bundesebene ab März 2019 werden in Zukunft weniger Asylsuchende den Kantonen zugewiesen. Im Vergleich zu heute werden sich deshalb mehr vorläufig aufgenommene Personen (VA) und anerkannte Flüchtlinge und weniger Asylsuchende in den Asylstrukturen des Kantons Bern befinden. Die dem Kanton Bern zugewiesenen Personen werden anschliessend direkt einem der regionalen Partner zugeteilt. Dies geschieht, wie bis anhin, nach einem Turnusprinzip und gemäss den freien Kapazitäten der Partner, die Unterbringung wird weiterhin nach dem 2-Phasen-Prinzip gehandhabt. Dies bedeutet, dass alle Asylsuchenden, anerkannten Flüchtlinge und VA zu Beginn in einer Kollektivunterkunft (1. Phase) und anschliessend in einer privaten Wohnungen (2. Phase) untergebracht werden. Anders als heute – und darin liegt eine der fundamentalsten Neuerungen von NA-BE – ist der Übergang von der ersten in die zweite Phase aber an bestimmte Integrationskriterien wie Sprachstand und Erwerbstätigkeit bzw. Ausbildung geknüpft. Neu ist zudem, dass Personen französischer Muttersprache
nach Möglichkeit in einer französischsprachigen Region des Kantons Bern untergebracht werden.
Übergang in zweite Phase an Integration geknüpft
Eine Ausplatzierung von Asylsuchenden und vorläufig aufgenommenen Personen wird in Zukunft erst dann möglich sein, wenn die Person (bzw. ein Mitglied des Familienverbands) einen Sprachstand von mindestens A1 erreicht und eine Erwerbstätigkeit oder eine Ausbildung aufgenommen hat. Anerkannte Flüchtlinge haben zwar freie Wohnungswahl, die Sozialhilfestellen sind aber nicht verpflichtet, die Flüchtlinge bei der Wohnungssuche zu unterstützen, solange sie die erwähnten Kriterien nicht erfüllen. Gegenüber dem Status Quo handelt es sich bei dieser Neuerung zweifelsohne um eine Erschwernis für die Betroffenen. Aus Sicht der KKF ergeben sich aus den neuen Bestimmungen eine ganze Reihe von offenen Fragen und möglichen Problemen, die wir im Folgenden ausführen wollen:
(1) «Survival of the Fittest»
In Zukunft ist die Leistungsabgeltung vom Kanton an die Partner zu 60% an die Erfüllung von Leistungskriterien im Bereich der Integration gekoppelt. Gemäss rein betriebswirtschaftlichen Kriterien macht es für die Partner deshalb Sinn, hauptsächlich jene Personen zu fördern, die möglichst rasch in den Arbeitsmarkt integriert werden können (mehr dazu auch im kommenden AsylNews 2/19). Aus Sicht der KKF birgt NA-BE damit die Gefahr, dass in Zukunft zu einseitig auf die berufliche Integration und die Förderung von Personen fokussiert wird, welche die erforderlichen Ziele am schnellsten erreichen können. Andere, seien es ältere oder gesundheitlich beeinträchtigte Personen, Bildungsferne oder Personen mit Betreuungspflichten, laufen Gefahr, durch die Maschen des auf rasche Integration ausgerichteten Modells zu fallen – und damit während Jahren in den Kollektivunterkünften (KU) untergebracht zu sein.
(2) Ausplatzierung von Familien mit Kindern
Die Erfüllung der genannten Integrationskriterien als Voraussetzung für den Transfer in eine Wohnung gilt gemäss der Detailkonzeption NA-BE nicht für Familien mit schulpflichtigen Kindern und für besonders verletzliche Personen. Anders als in der Detailkonzeption und auch in der Ausschreibung für die regionalen Partner ist aber im kürzlich publizierten Gesetzesentwurf über die Sozialhilfe im Asyl- und Flüchtlingsbereich die Ausnahme von Familien und besonders Verletzlichen von der Erfüllung der Integrationskriterien nur als Kann-Bestimmung formuliert (Art. 35, Abs. 2). Es liegt somit im Ermessen der Partner, ob sie eine Familie oder eine besonders verletzliche Person über längere Zeit in der KU behalten oder für diese eine eigene Wohnung suchen. Die KKF erachtet es als unabdingbar, dass sowohl Familien mit Kindern als auch besonders verletzliche Personen in jedem Fall so rasch wie möglich in eigene Wohnungen untergebracht werden und dies in der entsprechenden Verordnung so ausgeführt wird.
(3) Erfordernisse des Arbeitsmarktes
Die Erfahrung zeigt, dass ein Sprachniveau A1 in aller Regel nicht reicht, um einen Job zu finden oder gar eine Ausbildung zu beginnen oder gar einen Job zu finden. Für einen Grossteil der Integrationskurse gilt aktuell ein Sprachstand von A2 als Mindestvoraussetzung und auch für den Einstieg in den Arbeitsmarkt verlangen Arbeitgebende in aller Regel mindestens ein A2. Aus Sicht der KKF ist es deshalb essentiell, dass Personen, deren Arbeitsintegration angestrebt wird, mindestens bis Niveau B1 gefördert werden und ihnen dadurch reale Chancen in der Arbeitswelt eingeräumt werden.
Offene Definitionsfragen
(1) Definitionsfrage: Besonders verletzliche Personen
Familien mit schulpflichtigen Kindern und besonders verletzliche Personen können aus den KU ausplatziert werden, auch wenn sie die genannten Integrationskriterien nicht erfüllen. Es stellt sich hier aber zwangsläufig die Frage, wer als besonders verletzlich gilt. Der Kanton beabsichtigt, in einer Verordnung entsprechende Kriterien aufzuführen. Obschon diese bislang nicht bekannt sind, kann davon ausgegangen werden, dass diese so ausgestaltet sein werden, dass sie nur eine kleine Gruppe von Personen umfassen. Aktuelle Studien zeigen, dass zwischen 30 und 60 Prozent der in die Schweiz Geflüchteten an posttraumatischen Belastungsstörungen leiden. Für diese gestaltet sich die Integration in den Arbeitsmarkt sowie das Erlernen einer Sprache oftmals sehr schwierig und nimmt sehr viel Zeit und Geduld in Anspruch. Gilt für diese grosse Personengruppe die Kategorie der besonders Verletzlichen? Und was ist mit jenen Personen, die zwar an keinen Traumata leiden, es aber trotzdem nicht schaffen, die erforderlichen Kriterien zu erfüllen? Eine bildungsungewohnte, ältere Person, die nicht (oder in einer anderen Schrift) alphabetisiert ist, hat erfahrungsgemäss grosse Mühe, innert nützlicher Frist ein Deutschniveau A1 zu erreichen – auch wenn Wille und Motivation vorhanden sind. Unklar ist zudem, welchen Zugang zu Sprachförderung jene Personen noch haben, die innert der vorgesehen Frist von drei Jahren nach Einreise das erforderliche Niveau A1 nicht erreichen.
(2) Definitionsfrage: Sprachniveau
Eine grundlegende und zentrale Frage stellt sich im Zusammenhang mit dem zu erreichenden Sprachniveau A1. Im Detailkonzept NA-BE heisst es, dass VA nach dem Asylentscheid weiter in KU verbleiben, «bis sie das Sprachniveau A1 erreicht […] haben». Damit stellt sich unweigerlich die Frage, wer die Beurteilung des Sprachniveaus vornimmt. Wird dies den einzelnen Partnern überlassen? Gibt es einheitliche Zertifizierungen und wenn ja, welche? Wer übernimmt die Kosten für diese Zertifizierungen? Und macht es Sinn, sowohl mündlich als auch schriftlich das Niveau A1 zu fordern? In Anbetracht der weitreichenden Konsequenzen, die der Nachweis des Sprachstands für die Betroffenen hat, ist es aus Sicht der KKF unabdingbar, dass alle Partner professionelle und kantonal einheitliche Sprachzertifizierungen anwenden und so eine Gleichbehandlung aller Betroffenen im gesamten Kanton gewährleisten. Des Weiteren wäre es aus unserer Sicht wünschenswert, dass lediglich die mündlichen Sprachkenntnisse berücksichtigt werden, stellt doch der schriftliche Erwerb einer Sprache viele bildungsferne Personen vor erhebliche Probleme.
Unterstützung bei Wohnungssuche
Erfüllt eine Person die geforderten Integrationskriterien, sind die Partner verpflichtet, sie bei der Wohnungssuche zu unterstützen – dies allerdings nur in der ihnen zugeteilten Region. Dies ist dann problematisch, wenn die betroffene Person in einer anderen Region eine Arbeitsstelle gefunden hat und ein Pendeln zum Arbeitsort nicht zumutbar ist. Die KKF würde es sehr begrüssen, wenn hier unbürokratische Lösungen zwischen den einzelnen Partnern gefunden werden können.
Französische Muttersprache
Eine wichtige NA-BE-Neuerung im Bereich der Unterbringung betrifft die Berücksichtigung der französischen Muttersprache von Personen des Asylbereichs. Wenn es die Kapazitäten in den KU zulassen, sollen Personen mit französischer Muttersprache in Zukunft grundsätzlich der Region Berner Jura/Seeland zugewiesen werden. Die KKF begrüsst diese Neuerung sehr. Studien zeigen, dass Asylsuchende, die in einer Region platziert sind, deren Sprache sie sprechen, deutlich bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Bei Muttersprachlern zeigt sich nach zwei Jahren eine um 20% höhere Erwerbstätigkeit (vgl. Auer: Sprachen-Roulette). Bei dieser schweizweit einzigartigen Praxis der Berücksichtigung von Sprachkenntnissen – auf Bundesebene laufen diesbezüglich erste kleine Bestrebungen (vgl. AsylNews 4/18), aus anderen zweisprachigen Kantonen sind uns keine vergleichbaren Regelungen bekannt – dürfte es sich um eine Win-Win-Situation für alle handeln. Der positive Effekt für die Betroffenen ist offensichtlich: Das Ankommen und die Integration in einer Region, deren Sprache man bereits spricht, ist zweifelsohne einfacher und verläuft schneller, sowohl die soziale als auch die berufliche Integration fallen leichter. Aber auch für den Kanton und die Gesellschaft sind positive Effekte zu erwarten, die sich aus der rascheren Integration von Neuzugezogenen ergeben.
Fehlende Betriebskonzepte für KU
Zum Gesamtauftrag der regionalen Partner gehört der Betrieb der KU, in denen Asylsuchende während des Asylverfahrens und vorläufig Aufgenommene bis Erreichen der Integrationsziele sowie Flüchtlinge untergebracht werden. Die regionalen Partner müssen für einen geordneten Betrieb der KU sorgen und die erforderlichen Betreuungsaufgaben erfüllen. Aus Sicht der KKF wurde die Chance verpasst, spezifische Regeln für bestimmte Zielgruppen zu formulieren. So fehlt ein umfassendes Betriebskonzept mit allen relevanten Grundlagen und Regelungen, welche durch die verschiedenen regionalen Partner im Bereich der Unterbringung eingehalten werden müssen. Verbindliche Regeln im Zusammenhang mit frauenspezifischen Themen und Bedürfnissen von besonderen Zielgruppen (z.B. vulnerable Personen) wären wünschenswert. Solche grundlegenden Fragen dürfen nicht dem Ermessensspielraum der regionalen Partner überlassen werden.
Frau B. und NA-BE
Die Abklärungsstelle Integration hat über Jahre hinweg vorläufig aufgenommene Personen begleitet und sie bei ihrer sozialen und beruflichen Integration unterstützt. Wie schwierig dieser Prozess mitunter ist, und wie langsam er teilweise fortschreitet, zeigen die Erfahrungen unserer Beraterinnen. Stellvertretend für viele, soll hier anhand der Lebensbiographie von Frau B. aufgezeigt werden, welche Auswirkungen das von NA-BE geforderte Anreiz- und Sanktionssystem für einzelne Betroffene haben könnte.
Frau B. kam im Alter von 45 Jahren alleine in die Schweiz, knapp zwei Jahre später erhielt sie den F-Ausweis. In Eritrea wuchs sie als Tochter einer Bauernfamilie in einer sehr ländlichen Gegend auf und half auf dem elterlichen Betrieb mit. Zwei Jahre lang besuchte sie die Grundschule, was kaum für Grundkenntnisse in Lesen und Schreiben reichte. Die geringen Alphabetisierungskenntnisse, über die Frau B. verfügte, waren zudem im Ge’ez-Alphabet und in der Schweiz somit von wenig Nutzen. Über eine Ausbildung verfügte Frau B. nicht. Nach knapp vier Jahren in der Schweiz und dem Besuch verschiedener Alphabetisierungskurse besuchte sie zum Zeitpunkt der Abklärung einen so genannten Nachalphabetisierungskurs. Der Abschluss eines A1-Kurses lag damit noch in weiter Ferne und wäre gemäss Aussagen der Kursleitenden frühestens nach zwei bis drei Jahren zu erwarten gewesen. Frau B. hatte eine belastende Flucht hinter sich, psychisch ging es ihr nicht gut und aufgrund einer Operation litt sie an Schmerzen in den Beinen und im Rücken. Diese hatten zur Folge, dass sie einen Einsatz in einem Beschäftigungsprogramm abbrechen musste. Die Integration in den Arbeitsmarkt – das erklärte Ziel von Frau B. – gestaltete sich aufgrund ihrer mangelhaften Deutschkenntnisse, ihrer fehlenden Qualifikationen und ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigungen äusserst schwierig und war zum Zeitpunkt der Abklärung deshalb kein vordergründiges Ziel. Nach ihrem Transfer aus der KU hatte Frau B. mehrere Monate in einer Wohngemeinschaft gelebt, was ihr psychisch stark zusetzte. Sie reagierte sehr empfindlich auf Lärm und Gerüche und litt als Folge davon oft an Übelkeit und starken Kopfschmerzen. Ein Umzug in ein eigenes Studio konnte diese Belastung stark reduzieren.
Werden die NA-BE-Bestimmungen so umgesetzt, wie im Detailkonzept vorgesehen, muss davon ausgegangen werden, dass Frau B. – wäre sie erst nach Inkrafttreten von NA-BE in die Schweiz eingereist – während den sieben Jahren, in denen vorläufig aufgenommene Personen in die Sozialhilfezuständigkeit des Kantons fallen, in einer KU verbracht hätte. Sie hätte es – wenn überhaupt – erst nach mehreren Jahren geschafft, einen Sprachstand von A1 zu erreichen, die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit im Ersten Arbeitsmarkt wäre innerhalb dieses Zeitrahmens praktisch unmöglich gewesen. Im Fall von Frau B. hätte der mehrjährige Aufenthalt in einer KU zudem bedeutende negative Auswirkungen auf ihre (psychische) Gesundheit gehabt, setzte ihr doch bereits die Unterbringung in einer Wohngemeinschaft stark zu.
Die Geschichte von Frau B. soll aufzeigen, dass es für viele Personen mit Fluchthintergrund äusserst schwierig ist, die von NA-BE geforderten Bedingungen für den Transfer in eine eigene Wohnung oder ein Zimmer zu erfüllen. Unsere Erfahrung zeigt, dass oft weder fehlende Motivation noch Integrationsunwilligkeit oder gar Faulheit der Grund dafür sind. Fehlende Schulbildung, fortgeschrittenes Alter, psychische Probleme, traumatische (Flucht)erfahrungen, Sorge um die in der Heimat verbliebenen Familienmitglieder sind nur einige der Gründe, die – gerade in Kombination – dazu führen können, dass jemand die vorgegebenen Ziele nicht erreichen kann.
Artikel von Asyl-News 1/19, Kirchliche Kontaktstelle für Flüchtlingsfragen