Juristische Stellungnahme zu den Massnahmen im Asylbereich in Bezug auf das Corona-Virus
Seit Beginn der durch das Corona-Virus ausgelösten Gesundheitskrise hat Solidarité sans frontières mehrfach die Fortsetzung der Asyl- und Wegweisungsverfahren kritisiert und darauf hingewiesen, dass es für die Bewohner*innen bestimmter Zentren unmöglich ist, den Empfehlungen des Bundesamtes für Gesundheit Folge zu leisten. Zu diesem Thema veröffentlichen wir heute eine Stellungnahme von Prof. Thierry Tanquerel, Honorarprofessor für Verfassungsrecht an der Universität Genf. Seine Schlussfolgerungen bestätigen uns darin, weiterhin mit Nachdruck die Rücknahme bestimmter bundesrätlicher Entscheidungen zu fordern.
Das SEM hat eine seltsame Vorstellung von Rechtsstaatlichkeit
In seiner Antwort auf den Offenen Brief der Plattform ZiAB (Zivilgesellschaft in den Asyl-Bundeszentren) vom 14. April 2020 rechtfertigt Migrationsstaatssekretär Mario Gattiker die Fortführung der Asylverfahren mit dem Argument, «die schweizerische Bevölkerung muss auf einen funktionierenden Rechtsstaat zählen können». Er legt damit eine merkwürdige Rechtsstaatskonzeption an den Tag: Die aktuelle Gesundheitskrise ist in seinen Augen zwar nicht schwer genug, dass sie einen Stopp der Asylanhörungen rechtfertigen könnte, aber gleichwohl so gravierend, dass die Rechte der Asylsuchenden auf rechtliches Gehör, rechtliche Vertretung und unentgeltlichen Rechtsbeistand eingeschränkt werden können.
Anhörungen ohne rechtliche Vertretung sind verfassungswidrig
In der Tat hat der Bundesrat am vergangenen 1. April entschieden, dass Asylanhörungen auch in Abwesenheit eine*r rechtlichen Vertreter*in (bzw. einer Hilfswerksvertretung nach dem alten Verfahrensmodell) möglich sind, wenn deren Teilnahme aufgrund der Corona-Pandemie nicht möglich ist. In seiner Stellungnahme bewertet Prof. Tanquerel dies als «eine unverhältnismässige und damit verfassungswidrige Einschränkung der gesetzlichen und verfassungsmässigen Rechte der Asylsuchenden».
Auch die Durchführung der Anhörung in zwei getrennten Räumen (Asylsuchende*r und Anhörende*r in dem einen, Dolmetscher*in, Rechtsvertreter*in und Protokollant*in im anderen) «verstärkt die Risiken von Missverständnissen und unzureichender Beratung», Mängel, die in bestimmten Fällen bei Rekursen geltend gemacht werden könnten. Und schliesslich könnte die Eidgenossenschaft für Ansteckungen aufgrund von Anhörungen oder anderen Verfahrensschritten, bei denen die Empfehlungen des BAG nicht befolgt werden, haftbar gemacht werden und wäre zur Leistung von Schadenersatz verpflichtet.
Das Verfahren muss ausgesetzt werden, wenn die «Feststellung der medizinischen Sachverhalte» nicht möglich ist
Die derzeitige Pandemiesituation stellt enorme Anforderungen an die Angehörigen der Gesundheitsberufe und macht es ihnen schwer oder gar unmöglich, die für das Asylverfahren erforderlichen medizinischen Gutachten zu verfassen. In seiner Antwort an die Plattform ZiAB räumt Mario Gattiker ein, dass «es vorübergehend nicht möglich ist, vollständige Feststellungen der medizinischen Sachverhalte bei Asylsuchenden durchzuführen» und dass das SEM die Bearbeitung von Gesuchen, die eine vertiefte medizinische Abklärung erfordern, aufschiebt. Aber wie sollen Asylsuchende angesichts der Tatsache, dass der Zugang zur medizinischen Versorgung in den Bundesasylzentren derzeit stark eingeschränkt ist, geltend machen, dass sie eine solche vertiefte Abklärung brauchen? Prof. Tanquerel erinnert daran, dass «die Fortführung von Asylverfahren trotz der gegenwärtigen Gesundheitskrise es in keiner Weise rechtfertigt, dass die medizinischen Untersuchungen nur schludrig durchgeführt werden oder sich die Behörden bei ihren Entscheiden auf Hypothesen stützen, die sie ohne die in Art. 26a des Asylgesetzes geforderte Feststellung der medizinischen Sachverhalte getroffen haben».
Die Aufrechterhaltung der Verfahren ist aus gesundheitlicher, humanitärer und ethischer Sicht fragwürdig.
Dass die Asylverordnung nicht die Aussetzung des Verfahrens vorsieht, ist für Prof. Tanquerel «aus gesundheitlicher, humanitärer und ethischer Sicht höchst fragwürdig». Die Begründungen des Bundesrates, die Schweiz müsse ihre internationalen Verpflichtungen einhalten, haben den Verfassungsrechtler nicht überzeugt: «Es ist nicht erkennbar, welche Verpflichtung die Schweiz verletzen könnte, wenn sie abgelehnte Asylsuchende einige Wochen oder Monate später ausschafft». Umgekehrt sei es aber durchaus «vertretbar, dass sich die Anerkennung des Asylstatus verzögert, wenn dies erforderlich ist, um die Gesundheit der Asylsuchenden zu schützen, indem ihnen die mit der Fortsetzung des Verfahrens verbundenen Risiken erspart werden».
Solidarité sans frontières, 24. April 2020
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