Faktenüberprüfung | Souveränitätsklausel: Das SEM verbreitet Falschmeldungen, um dem Dublin-Appel die Legitimität abzusprechen.
„Zwischen Januar 2014 und Ende Oktober 2017, d.h. in fast vier Jahren, wandte die Schweiz die Souveränitätsklausel mehr als 5600 Mal an“. Dies war die Antwort der Migrationsbehörden in Medieninterviews an die 33‘000 Unterzeichnenden des Appell gegen die sture Anwendung der Dublin-Verordnung. Diese Zahl kommt einer Falschmeldung gleich. Die Anzahl der Fälle, in denen die Souveränitätsklausel aus «humanitären Gründen oder in Härtefällen» angewendet wurde, ist erheblich tiefer als die vom Staatssekretariat für Migration angegebene Zahl: mindestens 75% dieser Fälle sind „Dublin- Griechenland-Fälle“, bei denen die Schweiz verpflichtet ist, einzutreten.
Eine Richtigstellung der Zahlen:
Am Montag, 20. November 2017, wurde eine von 33'000 Personen unterzeichnete Petition dem Bundesrat übergeben. Der Appell gegen die sture Anwendung der Dublin-Verordnung, welcher von über 200 Organisationen und Politiker/innen verschiedener Parteien – ausser der SVP - unterstützt wird, fordert die Schweiz auf, Art. 17 der Dublin Verordnung III bei verletzlichen Personen (Familien, Frauen mit Kindern, kranken Personen) häufiger anzuwenden. Die Einleitung des Abkommens besagt, dass die Mitgliedstaaten „insbesondere aus humanitären Gründen oder in Härtefällen“ von den Zuständigkeitskriterien abweichen können. Dementsprechend kann die Schweiz von einer Dublin-Wegweisung absehen, wenn davon verletzliche Personen betroffen sind oder dies eine Trennung der Familie zur Folge hätte. Die Unterzeichnenden bemängeln, dass die Schweiz diesen Spielraum, selbst in extremen Fällen, wie konkrete Beispiele zeigen, zu wenig nutzt und kritisieren damit die sture Anwendung der Verordnung.
Die Antwort des SEM liess nicht lange auf sich warten. Am 21. November 2017 wies das SEM in Medieninterviews darauf hin, dass die Schweizer Behörden die Souveränitätsklausel bereits anwenden würden. Sie verwies dabei auf 5 600 Fälle, in denen die genannte Klausel seit Januar 2014 zur Anwendung gekommen sei, wogegen in der gleichen Zeitperiode bei 11 000 Dublinfällen die Wegweisung vollzogen worden sei. Das SEM beabsichtige daher nicht, seine Praxis zu ändern.
Mit dem Verweis auf die mehr als 5 600 Fälle, bei denen die Schweiz bereits durch die Anwendung der Souveränitätsklausel Humanität bewiesen habe, versucht das SEM, dem Appell die Legitimation abzusprechen. Dies jedoch zu Unrecht:
• Das SEM verschweigt die Tatsache, dass es in 4200 der 5 600 Fälle, d.h. in 75% der Anwendungsfälle kein freier Ermessensentscheid der Schweiz war, die Souveränitätsklausel anzuwenden: es handelt sich vielmehr um die gestoppten Wegweisungen nach Griechenland. Dies geht klar aus einem Artikel des Tagesanzeigers hervor, der weitergehende Informationen gibt als die Antwort des Bundesrates auf eine Frage von Lisa Mazzone (Grüne/GE) vom 16.06.2016 (16.5238). Dies erklärt wohl auch, weshalb die Praxis des SEM derart undurchsichtig ist und die Kriterien für die Anwendung der Ermessensklausel nicht transparent sind.
Zu dieser Praxis ist die Schweiz jedoch aufgrund der Rechtsprechung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes verpflichtet, welche allen EU-Staaten Rückschaffungen nach Griechenland strikt verbietet. Auch das Bundesverwaltungsgericht (BVGer) bestätigte im Jahr 2011 die Unzulässigkeit einer Überstellung nach Griechenland. Damit handelt es sich bei den Fällen nicht um eine Anwendung der Souveränitätsklausel aus freiem Ermessen und humanitären Gründen. Es ging vielmehr um die Anwendung von Art. 3 § 2 der Dublin-Verordnung III, die eine Wegweisung von asylsuchenden Personen an einen Mit-gliedstaat verbietet, wenn dieser systemische Schwachstellen aufweist, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung mit sich bringen. Wenn die Schweiz trotzdem eine Wegweisung vollziehen würde, würde sie damit internationale Ver-pflichtungen verletzen und müsste sich vor den europäischen Instanzen verantworten.
• Was die restlichen ca. 1400 Personen betrifft, bestehen aus den unten dargelegten Gründen und aufgrund von Aussagen von in der Rechtsberatung tätigen Juristen und Juristin-nen begründete Zweifel, ob es sich um Fälle handelt, bei denen die Schweiz aus humanitären Gründen entschieden hat, die asylsuchenden Personen nicht wegzuweisen. Die Wirklichkeit zeigt, dass die Schweiz die Souveränitätsklausel (Art. 17) nur in den wenigs-ten Fällen von sich selber aus anwendet.
• Bei einem wesentlichen Teil (mehrere Hundert Personen) davon handelt es sich nämlich um Dublin-Ungarn-Fälle, bei denen das BVGer zunächst die Behandlung sowie den Vollzug der Fälle aussetzte und sodann alle Dossiers zurück an das SEM verwies mit der Anwei-sung, die Situation in Ungarn neu zu beurteilen. Vieles spricht dafür, dass dort heute ebenfalls systematische Mängel vorliegen, die eine Wegweisung von Asylsuchenden nach Ungarn verbieten.
• Andere Fälle beruhen auf einer politischen oder zivilgesellschaftlichen Intervention, die manchmal dazu führen, dass das SEM schliesslich aus humanitären Gründen auf ein Asyl-gesuch materiell eintritt. In der Regel lässt es jedoch in diesen Fällen eher die Frist ablau-fen als dass es von sich aus eintreten würde.
• Schliesslich ist darauf hinzuweisen, dass sogar ein Rückgang der Fälle zu verzeichnen ist, in denen die Souveränitätsklausel angewendet wurde. In der Zeitspanne vom Januar 2014 bis Mai 2016 wurden 4 000 Fälle registriert, demzufolge rund 1 600 Fälle pro Jahr. Letztes Jahr, zwischen November 2015 und November 2017, wurden lediglich 800 neue Fälle registriert.
Das SEM wollte die Grundsatzdebatte abschliessen, ohne gegenüber den zahlreichen Männern, Frauen, und Kindern, deren Verletzlichkeit nie berücksichtigt wurde, Rechenschaft abzulegen. Eindrücklich zeigen dies die im Laufe der Kampagne aufgezeigten Einzelfälle, in denen Familien getrennt, besondere Verletzlichkeiten von Kindern nicht berücksichtigt und medizinische Probleme nicht beachtete wurden. Es ist in diesem Sinne nicht übertrieben, von einer «sturen Anwendung» der Dublin Verordnung zu sprechen und festzustellen, dass die Schweiz nicht genügend von der gegebenen Möglichkeit Gebrauch macht, freiwillig und aus Mitgefühl von den Regeln der Verordnung abzuweichen.
Pour Vivre Ensemble,
Giada de Coulon
Chargée du Comptoir des médias