Anfang 2016 reiste eine Gruppe von Schweizer PolitikerInnen nach Eritrea. Die Gruppe konnte zwar wie üblich keine Gefängnisse besuchen, war sich aber nicht zu schade, bei der Rückkehr in die Schweiz die Menschenrechtsverletzungen in dem Land zu verharmlosen und eine «Migrationspartnerschaft» sowie die Verbesserung der diplomatischen Beziehungen mit der Diktatur zu fordern. Im März liess der ehemalige FDP-Parteipräsident und Ständerat Philipp Müller eine Interpellation folgen. «Nach aktuellem Informationsstand wäre es möglich, dass ein grosser Teil der eritreischen Asylsuchenden in ihr Heimatland zurückkehren könnten, ohne menschenrechtswidrige Behandlungen befürchten zu müssen», schreibt der 18-Prozent-Müller. In der Debatte im Ständerat am 15. Juni wurde er zwar von seinem Parteikollegen Aussenminister Didier Burkhalter zusammengestaucht. Dennoch musste die NZZ nur acht Tage später vermelden: «Der politische Druck scheint zu wirken.»
Pius Betschart, Vizedirektor des Staatssekretariats für Migration (SEM), hat nämlich gegenüber den Medien angekündigt, dass das SEM seine Praxis gegenüber Geflüchteten aus Eritrea ändern werde. Auf der Homepage des SEM finden sich dazu keine Informationen. Daher hier weiter die NZZ: Bei dieser Änderung gehe es «um Eritreer, die erst aufgrund der illegalen Ausreise aus ihrem Heimatland zu Flüchtlingen werden. Bisher wurden sie als Flüchtlinge vorläufig aufgenommen, weil der Vollzug ihrer Wegweisung aufgrund der vermuteten drakonischen Strafen in ihrer Heimat als unzulässig galt. Neu sollen sie grundsätzlich weggewiesen werden, also die Schweiz verlassen müssen, sofern sie in Eritrea noch nie für den zeitlich weiterhin unbefristeten Nationaldienst aufgeboten, von diesem befreit oder aus diesem entlassen worden sind.» Betroffen seien nur «wenige hundert» Asylsuchende pro Jahr. Die neue Praxis soll in den kommenden Monaten durch «Leitentscheide» konkretisiert werden.
Drei Dinge lassen sich bereits jetzt sagen: Erstens, die Ankündigung des SEM wird die eritreische Gemeinschaft in der Schweiz weiter verunsichern. Zweitens: Die Ankündigung steht nicht nur im Widerspruch zum jüngsten UNO-Bericht, in dem die Lage in Eritrea als katastrophal geschildert wird, sondern auch zu den Erkenntnissen, die das SEM selbst in zwei Berichten formuliert hat und die auf seiner Homepage ganz zuvorderst zu finden sind. Der erste stammt vom letzten Jahr und wurde für das European Asylum Support Office, eine Institution der Schengen-Zusammenarbeit, verfasst. Der zweite datiert vom 22. Juni 2016, also einen Tag vor Betscharts Ankündigung, und ist das Ergebnis einer „Fact-Finding-Mission“, die das SEM gemeinsam mit seinem deutschen Gegenpart, dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im Februar und März dieses Jahres durchgeführt hat.
Laut diesem „Update“ habe sich die Situation in Eritrea zwar in einigen Punkten verbessert. Zu allen wesentlichen Fragen werden jedoch Vorbehalte formuliert. Das gilt nicht nur für den – zivilen und/oder militärischen – Nationaldienst und die Lage der Dienstverweigerer, sondern auch für die illegale Ausreise, die für die meisten Menschen die einzige Möglichkeit darstellt, das Land zu verlassen und dem Nationaldienst zu entkommen. So seien zwar die Haftstrafen heute geringer als noch vor Jahren. Verlässlich ist diese Verbesserung jedoch nicht. Die harsche Strafandrohung besteht weiter; es gibt keine Rekursmöglichkeiten; die weniger harschen Richtlinien sind nicht öffentlich; Strafen werden aussergerichtlich verhängt, und eine überaus lange Haftdauer von bis zu zwei Jahren für eine Ausreise ohne Bewilligung ist nach wie vor sehr hart. Zwar soll es für freiwillige RückkehrerInnen möglich sein, das Verhältnis zum Staat vor der Rückkehr durch die Zahlung einer Steuer und die Abgabe eines Schuldbekenntnisses zu regeln. «Allerdings bestehen Vorbehalte: Da die Richtlinie nicht öffentlich ist, besteht keine Rechtssicherheit» – insbesondere nicht für regimekritische Personen. Wie es in den Gefängnissen aussieht, weiss auch die Delegation von SEM und BAMF nicht zu berichten, da sie dort keinen Zugang hatte. Und das Versprechen, den Nationaldienst zu verkürzen, hat die eritreische Regierung wieder zurückgenommen. Es bleibt also faktisch bei einer lange andauernden Zwangsarbeit.
Und drittens: Auch wenn das SEM jetzt bei einem Teil der Asylsuchenden aus Eritrea keine vorläufige Aufnahme mehr gewährt, sondern einen negativen Entscheid verbunden mit einer Wegweisung ausspricht, so ist diese Wegweisung doch nicht vollziehbar. Eritrea nimmt nämlich zwangsweise zurück geschaffte Staatsangehörige nicht wieder zurück. Spätestens das Bundesverwaltungsgericht dürfte solche erstinstanzlichen Entscheidungen des SEM daher korrigieren. Bis das der Fall sein wird und das Bundesverwaltungsgericht einen neuerlichen Grundsatzentscheid fällt, würde die neue Praxis nur menschliches Elend und Prekarisierung erzeugen. Mehr Geflüchtete müssten in Minimalzentren leben und erhielten nur noch Nothilfe. Dass das SEM mit dieser Praxisänderung Müller & Komplizen beschwichtigen könnte, ist kaum zu erwarten.
Solidarité sans frontières hat deshalb Bundesrätin Simonetta Sommaruga und SEM-Chef Mario Gattiker in einem Brief aufgefordert, dem Druck der parlamentarischen Fremdenfeinde standzuhalten, es bei der bestehenden Praxis zu belassen und eritreische Flüchtlinge weiterhin wenigstens vorläufig aufzunehmen.