HINWEIS | communiqué de presse 04.10.2013 ARTE
«Öffnung statt Abwehr!»
Kommentar von Moreno Casasola | Geschäftsführer SOSF
Die aktuelle Debatte um den Flüchtlingsfriedhof im Mittelmeer mutet absurd an. Weil sie heuchlerisch ist und Betroffenheit geäussert wird, wo bislang nur kaltes Schweigen herrschte. Es ist nicht etwa so, dass man das Elend bislang nicht kannte, nein. Das Sterben im Mittelmeer findet seit langem statt, laut der Organisation «UNITED for Intercultural Action» sind in den letzten zwanzig Jahren über 17000 Flüchtlinge (1) umgekommen. Doch wie bei Fukushima oder anderen Katastrophen scheint die Notwendigkeit des Handelns erst dann zwingend, wenn eine Tragödie die schiere Vorstellungskraft des Menschen durch eine absurde Zahl an Opfern übersteigt. Deshalb melden sich nun in ganz Europa PolitikerInnen zu Wort und äussern sich in anbiedernder Weise bestürzt – als ob sie gerade erst gemerkt hätten, dass etwas grundsätzlich schief läuft. Dieses vermeintliche «Erwachen» ist so verlogen wie pervers, kennen doch alle die Gründe für die anhaltende Tragödie. Doch zumindest ist ein Hoffen auf eine tatsächliche Debatte über die Festung Europa, die Abschirmung der EU-Aussengrenzen oder das Dublin-Abkommen nun erlaubt. PolitikerInnen im In- und Ausland liefern bereits Rezepte, Analysen und Forderungen, allesamt in der Absicht, die Situation verbessern zu wollen. Neben einigen wenigen brauchbaren Ansätzen (2) und einer überforderten Debatte in Italien, sind die meisten davon allerdings auf geheuchelter Bestürzung begründet und liefern dementsprechend keine substantiellen Verbesserungen. Nein, viel eher verstärken sie die Problematik, indem die Missstände zwar erkannt werden, dann aber das Rückgrat, der Mut und der Wille fehlen, um die richtigen Rückschlüsse zu ziehen. Dadurch werden aus Rezepten mit humanitärem Anstrich weitere Instrumente der Abwehr.
Schlepper als Schuldige – eine faule Ausrede
So fordert der französische Aussenminister Laurent Fabius «eine Aufstockung der Entwicklungshilfe, ein strengeres Vorgehen gegen Schlepper sowie mehr Geld für die EU-Grenzagentur Frontex». (3) In der Schweiz stellt Bundesrätin Sommaruga fest, «dass das Schiffsunglück, [...] die Dimension zeige, die der Menschenhandel angenommen habe». (4) Die FDP-ParlamentarierInnen Kurt Fluri und Doris Fiala diskutieren darüber, das Botschaftsverfahren wieder einführen zu wollen, das sie erst gerade mit Begeisterung abschafften. Ihr Parteipräsident Philipp Müller will lieber, dass die europäischen Staaten in Nordafrika eine «Sicherheits- und Versorgungszone einrichten, damit die die Flüchtlinge dort Nahrung, Wasser, medizinische Versorgung – und eben Sicherheit erhielten. Dort könnten dann auch die Asylgesuche behandelt werden.» Auch CVP-Hardliner Gerhard Pfister stimmt dem zu, indem er findet, «die Schengen/Dublin-Länder sollten prüfen, ob sie gemeinsame Zentren für Asylsuchende direkt in Nordafrika betreiben sollten». (5) Dies ist ganz im Sinne der SVP, bei der Nationalrat Hans Fehr wieder einmal findet: «Man muss der unmenschlichen Schlepperindustrie den Boden entziehen. Etwa indem die Attraktivität der Schweiz für Scheinflüchtlinge massiv gesenkt wird und durch konsequente, rasche Verfahren.» (6)
Wie schon in der Vergangenheit werden einmal mehr Schlepper als Schuldige ausgemacht. Doch Unmenschlicher Menschenhandel ist die Konsequenz der Festung Europa und eine Reaktion auf die ständige Verschärfung der Migrationsabwehr - mit tödlichen und unmenschlichen Konsequenzen. Der Mechanismus ist bekannt: die Drogenmafia profitiert ja auch am meisten von der Illegalisierung der Drogen (Balthasar Glättli auf Facebook). Schlepper zu bekämpfen ist Symptombekämpfung. Und europäische Zentren für Asylsuchende in Nordafrika, sie existierten schon einmal in einer ähnlichen Form. Doch mit dem Zusammenbruch des Gadhafi-Regimes in Libyen fielen diese «Puffer» weg. Dass die Herren Müller, Pfister und auch Fehr solche Ideen nun erneut schüren, entspricht dem bereits bestehenden Konzept, Flüchtlinge und MigrantInnen von Europa (insbesondere natürlich der Schweiz) fern zu halten. Im gleichen Kontext sind auch der Ausbau von Frontex oder die von Fluri und Fiala vorgeschlagene Wiedereinführung des Botschaftsverfahrens zu lesen: sie verstehen dies nicht als Mechanismus zur Fluchthilfe, sondern als Triage, die die Betroffenen ebenfalls davon abhalten soll, nach Europa zu gelangen. Abwehr, keine Hilfe. Auch auf sozialdemokratischer Seite ist in der Schweiz bis dato keine wirkliche Innovation erkennbar. Hier werden eine Erhöhung der Entwicklungshilfe und Migrationspartnerschaften als Lösung propagiert. Konzepte aus der Küche von Bundesrätin Sommaruga. Dass die Partnerschaften vornehmlich zum Ziel haben, Rückführungen von Asylsuchenden zu ermöglichen, hat SOSF schon vor geraumer Zeit berichtet. Eine ebenso grundsätzliche Kritik hierzu lieferte der ThinkTank FORAUS. Auch bei den Rezepten der Sozialdemokraten ist somit augenfällig: sie setzen ebenfalls darauf, dass die Migration zum Wohle der Betroffenen am besten nicht statt finden soll, indem man die Bedingungen vor Ort zu «verbessern» versucht. Dieser Ansatz hat nichts emanzipatorisches an sich und geht ebenfalls davon aus, dass zunächst einmal kontrolliert werden muss, wer sich auf den Weg nach Europa machen darf und wer nicht.
Ein radikales Umdenken ist zwingend nötig
Die Schiffsüberfahrten von Flüchtlingen nach Europa werden auch in Zukunft stattfinden. Weil die Menschen dies tun müssen. Es ist eine ihrer letzten Optionen. Erfreulicherweise formulierte es GLP-Ständerätin Verena Diener treffend: «Wir müssen einen Quantensprung machen, um das soziale Gefälle auf der Welt zu reduzieren. Wir können nicht Rohstofffirmen Afrika plündern lassen, uns über die Steuereinnahmen dieser Firmen freuen und uns gleichzeitig wundern, dass Flüchtlinge nach Europa kommen.» (7) Europa, und damit auch die Schweiz, müssen sich endlich nicht nur darüber klar werden, dass die Festung Europa existiert, sondern sie auch überwinden – wenn denn die Bestürzung über die aktuellste Tragödie vor Lampedusa echt gemeint sein soll. Dabei muss neu verhandelt werden, was am Ursprung der fortlaufenden Katastrophe steht. Zum Beispiel das Dublin-Abkommen, das Flüchtlinge in unmögliche wie unnötige Situationen zwingt. Oder die generelle Abstinenz eines legalen Verfahrens für MigrantInnen, um nach Europa zu gelangen, eine zweite resp. dritte Tür, ausserhalb des Asylwesens (das deswegen als konstant überhitztes Auffangbecken dient) und der Zuwanderungskontigente für Hochqualifizierte. Für die Schweiz würde dies bedeuten, das Zweikreisemodell ernsthaft zu überdenken. Will man die humanitäre Katastrophe, die sich im Mittelmeer seit Jahren abspielt, tatsächlich beenden, dann muss Europa Migration und Flucht als Begrifflichkeit ausweiten und als etwas Emanzipatorisches verstehen. Den MigrantInnen und Flüchtlingen eine echte Chance in Europa zu geben würde mittel- und langfristig weit mehr bringen, als jede Entwicklungshilfe vor Ort. Und es wäre darüber hinaus ehrlich. Wahrscheinlich wäre es deshalb sogar die «beste Abschreckungspolitik», die es es gäbe. Die europäische und somit auch die schweizerische Migrationspolitik müssen in diese Richtung gehen. Die Richtung, in der Migration und Flucht nicht mehr unterbunden oder kontrolliert werden müssen, sondern als Chance verstanden werden können. SOSF betont dies seit langem immer wieder.
Der Journalist Fabrizio Gatti schlug vor, der Gemeinde Lampedusa den Friedensnobelpreis zu verleihen. Keine schlechte Idee. Doch dies reicht bei Weitem nicht.