Ohne Aussprache haben die EU-Innen- und Justizminister am 1. Dezember 2005 die so genannte Asylverfahrensrichtlinie verabschiedet. Ursprünglich sollte diese Richtlinie die Mitgliedstaaten an gemeinsame "Mindestnormen für Asylverfahren " binden. Durch rigide Drittstaatenregelungen bewirkt sie genau das Gegenteil: Sie ermöglicht eine weitgehende Auslagerung des Flüchtlingsschutzes in Herkunftsregionen oder Transitstaaten. Selbst Staaten, die die Genfer Flüchtlingskonvention nicht ratifiziert haben, dürfen nun als "sicher" qualifiziert werden. Die EU umgibt sich nun mit einem Ring angeblich "sicherer Drittstaaten". Die Nachbarregionen Europas werden diesem Beispiel folgen. Dieser Dominoeffekt gefährdet das noch existierende internationale Flüchtlingsschutzsystem.
Zwei Monate zuvor, am 27. September 2005, hatte das EU-Parlament diese Vorlage in zentralen Punkten zurückgewiesen. Die klare Botschaft der ParlamentarierInnen: Europa braucht mehr Flüchtlingsschutz, mehr Rechte für Flüchtlingskinder und keine Drittstaatenregelung nach deutschem Modell. Das Parlament zeigte dem Ministerrat die rote Karte. "Wir haben deutlich gemacht, dass er hier nicht ohne unsere Mitentscheidung walten kann, wie es ihm beliebt, und gut beraten wäre, unsere Änderungsvorschläge zu berücksichtigen ", kommentierte damals der zuständige Berichterstatter Wolfgang Kreissl-Dörfler das Votum des Europaparlaments. Wenn das Europaparlament Muskeln zeigt, bezeichnen die KommentatorInnen dies gerne als "Sternstunde der Demokratie".
Völkerrechtswidrig und undemokratisch
Wenige Tage nach dem klaren Bekenntnis des Parlaments zum europäischen Asylrecht haben die Dramen in Ceuta und Melilla auf grausame Art die europäische Realität beschrieben. Die EU-Staaten sind bei der Durchsetzung ihres Flüchtlingsbekämpfungsprogramms bereit, sich immer mehr den Menschenrechtsstandards der Herkunftsländer anzugleichen. Europa forciert die Auslagerung des Flüchtlingsschutzes ohne Rücksicht auf internationale Schutzabkommen oder die Menschenrechtssituation in den Transitstaaten und Herkunftsregionen. Die Ausschaffungen der Flüchtlinge aus den spanischen Enklaven Ceuta und Melilla nach Marokko bedeuten nichts anderes als einen Bruch der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention.
Eure Beschlüsse sind uns wurst
Mit ihrer Entscheidung vom Dezember haben die EU-Innenminister diese völkerrechtswidrige Praxis in EU-Recht gegossen und gezeigt, wie es um die europäische Demokratie bestellt ist. Ihre Botschaft an das Parlament: "Eure Beschlüsse sind uns Wurst." Mitentscheiden darf das Parlament erst in der nächste Etappe der Harmonisierung. Für den Bereich des Asylrechts verweigern die Minister diesen bereits für 2004 geplanten Beschluss weiterhin. Sie wollen in Europa nach wie vor schalten und walten, wie es ihnen beliebt. Das Votum des Parlaments, die Bedenken des UNHCR und der Menschenrechtsorganisationen wurden völlig ignoriert.
Die EU-Innenminister haben nicht den Grundstein für ein gemeinsames Asylsystem gelegt, wie sie in ihren Presseerklärungen behaupten. Sie haben vielmehr ein kollektives Asylverhinderungsprogramm beschlossen - ein trauriger Tag für Europa und ein fataler Rückschritt für den internationalen Flüchtlingsschutz.
Was die Sache vielleicht noch trauriger macht: Dieser Vorgang fand kaum öffentliches Interesse. Der Parlamentsberichtererstatter Kreissl-Dörfler schwieg, und auch sonst war aus dem Europaparlament kein Aufschrei zu hören. So schnell können Sternstunden vergehen.
Karl Kopp
Pro Asyl Deutschland