Kurzes Einführungsreferat am Podium zur EU-Osterweiterung
Podium der ISA, 10. Mai 2004, Balthasar Glättli
Die EU-Osterweiterung stellt einige wesentliche Grundsatzfragen an die Migrationspolitik respektive macht diese bestehenden Grundsatzfragen offensichtlich. Der Diskurs der "Öffnung" wird realer, aber damit auch problematischer. Die Osterweiterung bringt 75 Millionen potentieller neuer KonsumentInnen, sie bringt zugleich - angesichts der hohen Arbeitslosigkeit und der grossen Lohnunterschiede - viele potentielle neue BilligarbeiterInnen, die zu einem rechten Teil auch gut qualifiziert sind.
Erlauben Sie mir vorab zwei Nebenbemerkungen:
- Die obigen Zahlen zeigen, dass die letzte Woche geführte Asyldebatte bezüglich der Zahlen unwesentlich ist, fürs Schaufenster geführt wurde, zur Profilierung gegenüber einem Rechtsaussen-Publikum.
- Bereits heute nimmt man an, dass 150-300'000 Personen als Sans-Papiers in der Schweiz leben und arbeiten, also zwei- bis viermal so viele wie Personen im Asylbereich hier sind. Und das stellt schon heute Fragen an die Sozialpartner. An die Gewerkschaften: wie werden die Grundrechte durchgesetzt, das Recht auf Lohn, auf Gesundheit, Wohnen, Bildung? An die Arbeitgebenden: welche Minimalstandarts wollen sie akzeptieren, wie das Dumping ausschliessen? Hier gibt es eine Kippe zwischen legal und illegal, und die Kernfrage ist dabei: führt man primär einen Kampf gegen Schwarzarbeit oder gegen die Schwarzarbeitenden?
Aber zurück zur eigentlichen Thema, zurück zur EU-Osterweiterung und den damit verbundenen Problemstellungen.
Die Osterweiterung macht einen blinden Fleck der liberalen Wirtschaftspolitik sichtbar. Während nämlich der eine Produktionsfaktor, das Kapital, praktisch ohne Hindernis fliesst, wird der andere Produktionsfaktor, die menschliche Arbeit, entlang der nationalen Grenzen weiterhin massiv behindert. Es droht die Gefahr, dass die - in diesem neoliberalen Sinn globalisierte - Wirtschaft eine unheilige Allianz schliesst mit den Gewerkschaften, denen es am notwendigen, supranationalen Organisationsgrad mangelt. D.h. dass die Abschottung des Arbeitsmarkts in einer Koalition mit den Gewerkschaften aufrecht erhalten wird, währenddem eine andere Mehrheit den freien Fluss des Kapitals durchsetzt. Dabei müsste - auch aus gewerkschaftlicher Sicht - klar sein, dass die befürchteten "Wanderungswellen" nicht kommen. Das zeigt die heutige Freizügigkeit, welche weit geringere Mobilität der Arbeitnehmenden mit sich gebracht hat als je nach Standpunkt erhofft oder befürchtet worden war. Auch die weitere EU-Integration wird hier nicht anders verlaufen. Dagegen werden die Arbeitsbedingungen und die Löhne teils massiv unter Druck kommen, und das Rezept der Gewerkschaften, in dieser Auseinandersetzung andere Kräfteverhältnisse zu erreichen, ist so simpel wie schwierig umzusetzten - nämlich die Erhöhung des Organisationsgrads.
Aus meiner Sicht ist dieses Konzept zwar nicht falsch, aber meine Einwand ist: das Erkämpfen der grundlegenden Rechte muss von unten her möglich sein. Es braucht eine eigentliche Grundrechtspolitik, die den Vorgaben internationaler Menschenrechtsvereinbarungen, dem Pakt über die wirtschaftlichen und sozialen Rechte, der UN Konvention zum Schutz der Rechte der WanderarbeiterInnen und ihrer Familien zum Durchbruch verhilft.
Eine Politik der Anpassung der Schweiz an die EU-Osterweiterung misst sich daran und ist dann - und nur dann - zukunftsfähig, wenn sie das Fundament legt für eine weltweite Freizügigkeit im Personenbereich, welche natürlich auf Gegenseitigkeit beruhen muss. Manchmal sagt man: wer sich zu grosse Ziele setzt, scheitert. In diesem Fall sehe ich die gegenteilige Gefahr: Wenn es der Schweiz nicht gelingt, Grundrechte so zu verankern gerade im Bereich des ArbeitnehmerInnen- Schutzer, dass sie real funktionieren selbst bei einer allmählichen weltweiten Öffnung des arbeitsmarkts, also der Möglichkeit, dass alle Personen mit einem Arbeitsvertrag in der Schweiz hier auch eine Aufenthaltsbewilligung erhalten, wenn das nicht gelingt, dann wird auch die Ost-Erweiterung sehr problematisch werden!
Wer jetzt meint, diese Frage sein zu kompliziert zu lösen, zu schwierig, oder sie überfordere die Sozialpartner, sei daran erinnert: auch die schärfsten Gesetze werden die Migration nicht verhindern, sondern zu mehr Elend, Ausbeutung und prekären Arbeitskräften führen. Die heute in der Schweiz lebenden 150'000 bis 300'000 Sans-Papiers sind der offensichtlichste und für die Schweiz beschämendste Beweis für diese These.
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