Heiner Busch
Offene Grenzen, aber Schleierfahndung im Hinterland: Zoll und Polizei rüsten sich für einen Beitritt zum Schengener Abkommen. "Kontrollfreie Grenzen wird es auch dann nicht geben, wenn die Schweiz an Schengen beteiligt ist und formell die Personenkontrollen an den Grenzen abgeschafft hat." Mit dieser "Beruhigung" schloss der Chef des Grenzwachtkorps (GWK), Hanspeter Wüthrich, am Montag seinen Vortrag. Wüthrich referierte an einem Medienseminar, zu dem das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) geladen hatte. Man wollte dort "auf das Schengen-System in allen seinen Zusammenhängen und Dimensionen" eingehen. Demonstriert hat man, dass die Schweiz zwar zu den polizeilichen Fleischtöpfen der EU möchte, dass sie aber nicht einmal bereit ist, die minimalen Freiheiten, die das Schengener Abkommen verspricht, ernsthaft zu erfüllen. "Die Binnengrenzen dürfen an jeder Stelle ohne Personenkontrolle überschritten werden", heisst es nämlich in Art. 2 dieses Vertrags - zumindest auf dem Papier.
Anfang Jahr kündigte der Bundesrat eine neue Runde bilateraler Verhandlungen mit der EU an. Einmal mehr äusserte er den Wunsch, auch ohne EU-Beitritt bei Schengen und Dublin mitmachen zu dürfen. Dort sind bisher nur zwei Nicht-EU-Staaten akzeptiert: Norwegen und Island, die im Rahmen der Nordischen Passunion schon seit Jahren die Kontrollen an den Grenzen zu den skandinavischen EU-Nachbarn abgeschafft haben. Erstaunlicherweise bot nun auch die Schweiz, die bisher die Grenze zu Italien nicht nur durch das GWK, sondern auch durch Berufssoldaten des Festungswachtkorps überwachen lässt, ihre Bereitschaft zu offenen Grenzen an. Diese will man nicht nur durch die im Schengener Abkommen von 1990 vereinbarte und seitdem systematisch ausgeweitete polizeiliche und ausländerpolitische Kooperation kompensieren, sondern auch durch eine Schleierfahndung nach deutschem Muster.
Wie bei der Anti-WEF-Demo
Im "rückwärtigen Grenzraum" von dreissig Kilometern soll wie an einem Grenzübergang ohne Verdacht kontrolliert werden. Dies mache das GWK - so Wüthrich - im Prinzip auch heute schon. Wenn nicht mehr an den Grenzen selbst kontrolliert werde, würden aber mehr Kapzitäten frei. Die Kontrollen an der Grenzlinie seien ineffizient und personalintensiv, sie könnten leicht umgangen werden, weil nur ein Teil der Grenzübergänge permanent besetzt sei. Kontrollen hinter der Grenze, d.h. im Inland, seien dagegen unberechenbar. Was Wüthrich verschweigt: sie sind eigentlich auch illegal. Voraussetzung einer Identitätskontrolle im Inland ist entweder ein konkreter Verdacht oder eine "Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung". Dies - so der Basler Rechtsanwalt Nicolas Roulet gegenüber der WoZ - sei die Rechtslage in allen Kantonen. Was verdachtsunabhängige Kontrollen bewirken, habe man bei den Polizeiaktionen gegen die Anti-WEF-DemonstrantInnen im Januar gesehen. Von Willkür, vor allem gegen MigrantInnen und "ausländisch aussehende" Personen, berichten auch Beobachter aus Deutschland. Ohne konkreten Verdacht - so Martin Herrnkind, einer der Sprecher der Bundesarbeitsgemeinschaft kritischer PolizistInnen - richte sich der von den Grenzwächtern gelobte "geübte Blick der Fahnder" notwendigerweise an äusserlichen Kriterien wie der Hautfarbe aus.
Noch ist offen, wer die Schleierfahndung in der Schweiz künftig betreiben soll - das GWK oder die Kantonspolizeien. Unklar ist auch, ob das GWK wie bisher bei der Eidgenössischen Zollverwaltung verbleiben soll oder zu einer Sicherheitspolizei des Bundes umgebaut wird. Diese Fragen sollen in den nächsten zwei Jahren im Rahmen von USIS (Überprüfung des Systems der Inneren Sicherheit) geklärt werden, einem Projekt, das die kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren gemeinsam mit dem EJPD betreiben.
Der Ausgrenzungscomputer
"Das Schengener Informationssystem (SIS) ist ein Quantensprung im polizeilichen Informationsaustausch", erkärte Jean-Luc Vez, Direktor des Bundesamtes für Polizei, an der gleichen Veranstaltung. Ende des Jahres wird es, so plant die SIS-Arbeitsgruppe des EU-Ministerrates rund 14 Millionen Daten enthalten, darunter rund 1,9 Millionen Personendaten. Von denen wiederum betreffen nur etwa 1% Straftäter, die zur Festnahme ausgeschrieben sind. Das SIS ist kaum ein Instrument der Strafverfolgung, sondern in erster Linie eines der Ausgrenzung von AusländerInnen. Rund 80% der gespeicherten Personen sind Nicht-EU-BürgerInnen, die entweder ausgeschafft oder gar nicht erst in den "europäischen Sicherheitsraum" eingelassen werden sollen. Im jetzt geplanten "SIS der zweiten Generation" werden die Laufzeiten für Drittausländerdaten verlängert, wodurch die Menge dieser daten automatisch wachsen wird. Speichern will man neu auch Fotos, Fingerabdrücke und DNA-Profile.
Den Zugang zum SIS, eine Vollintegration der Schweiz in den Schengen-Club, werde es ohne EU-Mitgliedschaft nicht geben. So hatten die EU-Staaten zuletzt 1998, gegen die Stimmen Deutschlands und Österreichs entschieden. Weil dieser schnelle Weg verbaut war, bemühte sich das EJPD zunächst um Polizeiverträge mit den Nachbarstaaten. Am weitesten ging man dabei mit Deutschland. Mit dem Grossen Kanton wurden grenzüberschreitende Polizeimethoden ausgehandelt, die selbst über das in Schengen ausgehandelte Mass weit hinausgehen.
Grenzüberschreitende Observationen sollen unbegrenzt, auch gegen blosse Kontaktpersonen möglich sein. Die Verfolgung über die Grenze hinweg ist weder räumlich noch zeitlich begrenzt. Selbst ein Austausch von verdeckten Ermittlern wurde vertraglich fixiert. Darüber hinaus vereinbarte man einen umfassenden automatisierten Datenaustausch, dessen Kategorien denen des SIS entsprechen. Sobald das Abkommen auch von der Gegenseite ratifiziert ist, so Vez, werde man eine gemeinsame Datenbank aufbauen, die dann auch von den Kantonspolizeien abrufbar wäre. Die Schweiz ist also durchaus weit vorangekommen, dennoch so Vez, seien die Verträge mit den Nachbarn sehr unterschiedlich und einen Zugang zum SIS habe man weiterhin nicht.
Platz am Kindertisch
Wenn die Schweiz bei der neuen bilateralen Runde mit der EU Erfolg hat, wird sie neben Norwegen und Island am Kindertisch der EU-Minister, dem Gemischten Ausschuss, Platz nehmen müssen. Sie darf zwar mitdiskutieren, aber nicht mitentscheiden. Sie hat nicht nur den bisherigen Schengen-Acquis - das Schengener Abkommen und ca. 200 Beschlüsse -, sondern auch alle weiteren Entscheidungen des Ministerrats nachzuvollziehen.
Diese Perspektive kann nur dem EJPD und der Polizei gefallen, die damit über einen Mechanismus verfügen, um die mit den EU-Partnern ausgehandelten Pläne ohne Einsprachen des Parlaments und der Kantone über die Bühne zu bringen. Immerhin hat die Konferenz der Kantonsregierungen (KdK) im April "grosse Skepsis" angemeldet. "Bilaterale Verhandlungen und erst recht die automatische Übernahme des gesamten Schengen-Acquis sind für die Kantone ungünstiger als ein EU-Beitritt", so KdK-Sekretär André Baltensperger. Im letzteren Falle wäre es möglich gewesen, in einem längeren Prozess die negativen Wirkungen einer Zentralsierung auszugleichen und die Mitwirkungsrechte der Kantone neu zu formulieren. "Bilaterale Verträge sind dagegen Aussenpolitik, über die nur der Bund entscheidet."
Der Bund - so Baltensperger weiter - "trägt das Ziel des EU-Beitritts vor sich her, tut aber alles, dass es nicht Wirklichkeit wird." Tatsächlich hat die Schweiz bisher über bilaterale Verhandlungen alles erreicht, was die bürgerliche Mehrheit in diesem Lande von der EU will: Verkehrs- und Handelsabkommen, einen lausigen Vertrag, der die Personenfreizügigkeit auf die lange Bank schiebt - und sie schafft nun vielleicht auch die Teilnahme am Schengener Repressionsverbund. Wer wirklich an den positiven Seiten der EU interessiert ist - vom besseren Sozial- und Arbeitsrecht über Anti-Diskriminierungsklauseln bis hin zum kommunalen Stimm- und Wahlrecht für AusländerInnen - muss jetzt alles daran setzen, dass die bilaterale Schengen-Lösung scheitert.
Eine Schweiz ohne Flüchtlinge?
Wenn die Schweiz dem Dubliner Erstasylabkommen beitritt, dürften hierzulande nur noch wenige Flüchtlinge eine Chance auf Anerkennung haben. Das Abkommen lässt pro Flüchtling nur noch ein Asylgesuch zu und definiert den dafür zuständigen Staat. Für alle diejenigen, die nicht unmittelbare Verwandte in einem Vertragsstaat oder - was noch seltener vorkommt - ein Einreisevisum für eines dieser Länder haben, gilt die allgemeine Regel: Es entscheidet der Staat, dessen Gebiet als erstes betreten wurde. Alle unzuständigen Staaten können "formlos" zurückschieben. Das Binnenland Schweiz wäre dann theoretisch nur noch für die auf den internationalen Flughäfen ankommenden Asylsuchenden verantwortlich. In Zürich Kloten waren das im vergangenen Jahr gerade einmal 162.
Praktisch bedeutet das, dass bei den Anhörungen im Asylverfahren mehr noch als bisher zuerst nach dem Fluchtweg und nicht nach den Asylgründen gefragt wird. Wer noch eine italienische Lira oder ein französisches Busbillet auf sich trägt, wird in der Schweiz kaum eine Chance haben. Flüchtlinge, die bereits in einem EU-Staat erkennungsdienstlich behandelt wurden, sind definitiv draussen. Ende 2002 wollen die EU-Staaten ihre Fingerabdruck-Datenbanken zu einem gemeinsamen System Eurodac verbunden haben, das Mehrfachregistrierungen und damit Nachfolgegesuche sofort erkennen kann. Bei einem probeweisen Abgleich mit Deutschland in den vergangenen sechs Monaten habe sich eine Quote von 20% solcher Doppelanträge ergeben, berichtete der Chef des Bundesamtes für Flüchtlinge, Jean Daniel Gerber, am Montag.