In der Tat: nichts vielleicht macht den ungeheuren Rückfall sinnlicher, in den die Welt seit dem ersten Weltkrieg geraten ist, als die Einschränkung der persönlichen Bewegungsfreiheit der Menschen und die Verminderung seiner Freiheitsrechte. Vor 1914 hatte die Erde allen Menschen gehört. Jeder ging, wohin er wollte und blieb, solange er wollte. Es gab keine Erlaubnisse, keine Verstattungen, und ich ergötze mich immer wieder neu an dem Staunen junger Menschen, sobald ich ihnen erzähle, dass ich vor 1914 nach Indien und Amerika reiste, ohne einen Pass zu besitzen oder überhaupt je gesehen zu haben.
Man stieg ein und stieg aus, ohne zu fragen und gefragt zu werden, man hatte nicht ein einziges von hundert Papieren auszufüllen, die heute abgefordert werden. Es gab keine Permits, keine Visen, keine Belästigungen; dieselben Grenzen, die heute von Zollbeamten, Polizei, Gendarmerieposten dank des pathologischen Misstrauens aller gegen alle in einen Drahtverhau verwandelt sind, bedeuteten nichts als symbolische Linien die man ebenso sorglos überschritt wie den Meridian in Greenwich. Erst nach dem Krieg begann die Weltverstörung durch den National-Sozialismus und als erstes sichtbares Phänomen zeitigte diese geistige Epidemie unseres Jahrhunderts die Xenophobie: den Fremdenhass oder zumindest die Fremdenangst. Überall verteidigte man sich gegen den Ausländer, überall schaltete man ihn aus. All die Erniedrigungen, die man früher ausschliesslich für Verbrecher erfunden hatte, wurden jetzt vor und während einer Reise einem Reisenden auferlegt. (Zitat: Stefan Zweig, "Die Welt von Gestern")
Ein Sans Papiers aus Argentinien erklärte uns während einer der Vorbereitungssitzung dieses Runden Tisches, dass heute die Armen dieser Welt nicht nur das Karma der Armut zu tragen haben, sondern auch noch das Karma der Illegalität, wenn sie es wagen, die verbotenen Stätte des Reichtums zu betreten. Die Problematik der Sans Papiers betreffen nicht nur die Schweiz, sie ist in allen industrialisierten Regionen der Welt anzutreffen. Dieses Phänomen wird wachsen und ist mit fremdenpolizeilichen Massnahmen nicht zu lösen. Im Gegenteil: durch die Illegalisierung wird ein innerer Feind geschaffen, der wiederum der Fremdenfeindlichkeit Tür und Tor öffnet. Der "Arme wird zum Feind.
Diese Stimmung wird dann wiederum zur Bestätigung einer "harten" Politik herangezogen. Eine Spirale, die sich immer weiter in Richtung
Abbau demokratischer Rechte bewegt. Offenbar sind viele Kreise mit dieser Situation zufrieden. Der Sans Papiers ist die "ideale" Arbeitskraft, erpressbar und rechtlos. Fremdenfeindlichkeit ist ein gängiges Mittel, um von eigenen sozialen Problemen abzulenken. Wir wollen auch daran erinnern, dass in der Schweiz jene Kreise, die von Sans Papiers am meisten profitieren, von den gleichen politischen Gruppierungen vertreten werden, die eine politische Lösung am vehementesten ablehnen.
Wir brauchen eine neue Herangehensweise. Ein Blick über die Grenzen oder in die Vergangenheit zeigt, dass es durchaus Lösungsansätze gibt. Italien, Griechenland, Frankreich und Portugal haben kollektive Regularisierungen durchgeführt, die mehr als 1,5 Millionen Menschen betreffen. Belgien ist ebenfalls auf dem Weg dazu. Bedingungen dazu war ein Arbeitsplatz, die Aufenthaltsdauer und eine Unterkunft. In den USA wurden in den 80-er Jahren an die 3 Mio Menschen legalisiert. Eine weitere Aktion in ähnlicher Grössenordnung wurde nach dem 11. September auf die lange Bank geschoben.
In der Schweiz gab es ebenfalls, immer unter Druck von Bürgerrechtsbewegungen, kollektive Regularisierungen. Wir erinnern an die kollektive Legalisierung tamilischer Flüchtlinge, an die Lösung für die ex-Saisonniers aus Jugoslawien im Kanton Waadt, allerdings nur in diesem Kanton, weil eine starke Bewegung existierte und an die humanitäre Aktion 2000 für Menschen, die seit über 8 Jahren hier sind. Hiervon waren etwa 13’000 Personen betroffen.
Seit Frühjahr 2001 sind in der Schweiz die Sans Papiers an die Öffentlichkeit getreten. Erst in Lausanne, dann in Fribourg, in Bern, in Neuenburg und in Basel machten sie durch Besetzungsaktionen auf ihre Lage aufmerksam. Eine neue Qualität ist die Tatsache, dass die Betroffenen selbst zu Akteuren wurden, dies führte zu einer Welle der Sympathie, was die These der endogenen Fremdenfeindlichkeit einmal mehr widerlegt. Die Sans Papiers zeigen ihr Gesicht, machen auf ihre Probleme aufmerksam, nachvollziehbare Probleme, man beginnt, das Bedürfnis nach neuen Lösungen zu suchen zu verstehen. Es sind Menschen, von denen Landwirtschaft, Restaurants und Hotellerie, das Reiniugungswesen, die Bauwirtschaft profitieren. Statt nach wirtschaftlich annehmbaren Rahmenbedingungen für diese Bereiche zu suchen, gestand man ihnen insgeheim die Billigarbeitkraft zu, bis sich jene zu wehren begannen. Ein nur logischer Schritt in dieser Denkart sind die betrügerischen "Ausbildungsverträge" in der Landwirtschaft für Menschen aus Osteuropa, eine noch prekärere Auflage des Saisonniers-Statuts, mit dem jene konkurrenziert werden sollen, die begonnen haben, sich zu wehren.
Als Antwort auf die Bewegung der Betroffenen, nach einer Demonstration mit 10'000 Menschen in Bern und nach der Weigerung im Parlament inhaltlich auf die Problematik einzugehen, erfolgte das Zirkular aus dem Departement Metzler über die Bearbeitung von schwerwiegenden Härtefällen. Für die vom EJPD vorgeschlagene Beurteilung durch die Polizeiorgane der Kantone sind hochkomplexe Kriterien erforderlich, die den Behörden wiederum einen riesigen Ermessensspielraum, den Sans-papiers jedoch kaum eine Chance auf Legalisierung belassen. Die angeführten 10 Kriterien (wie schulische Leistungen der Kinder, soziale Integration aller Familienangehörigen, stabiles Arbeitsverhältnis und Weiterbildung (!) etc.) konnte kaum ein Sans Papiers erfüllen, der sich erzwungenermassen in allen Lebensbereichen in der Dunkelzone bewegen muss. Die 10 Kriterien werden durch zusätzliche Grundsätze eingeschränkt, wie die Berücksichtigung der konkreten Umstände, die zum "illegalen Aufenthalt" geführt haben.
Noch schlimmer sah es für ehemalige Asylsuchende aus. Nur Asylsuchende, deren Wegweisung aus technischen und zwischenstaatlichen Gründen nicht vollzogen werden konnte, haben allenfalls eine minimale Chance auf eine Legalisierung, vorausgesetzt, sie erfüllen die erwähnten Kriterien. Für Asylsuchende in ausserordentlichen Asylverfahren (die noch eine Anwesenheitsberechtigung besitzen) sieht es kaum besser aus, selbst wenn sie zehn oder zwölf Jahre in der Schweiz leben. Keines der vielen europäischen Länder, die eine Regularisierung für Sans Papiers durchgeführt haben, haben so hochkomplexe und exklusive Legalisierungskriterien angewendet.
Das Resultat dieser Aktion spricht für sich. In der Tat wurden bis heute etwa 330 Menschen in diesem Rahmen legalisiert, was den Verdacht erhärtet, dass es sich hier um eine reine Abwehrstrategie gegenüber einer Bewegung handelt, mit der die sensibilisierte Öffentlichkeit getäuscht werden sollte. Dazu kommt, dass diese Regelung nur in jenen Kantonen angewandt wurde, in denen es kritische Bewegungen gab. Ein ernstzunehmender Versuch, das strukturelle Problem jener 80 bis 200'000 Sans Papiers zu lösen ist es wohl kaum.
Nach der Weigerung der Bundesbehörden, sich inhaltlich mit der Thematik auseinanderzusetzen, wiederholt die Sans Papiers Bewegung gesamtschweizerisch ihre Forderung nach einer kollektiven Regularisierung, nach einem Stop der Ausschaffungen, einer Bestrafung jener, die die prekärsten Arbeiten verrichten, durch Vernichtung ihrer aufgebauten Existenz, sowie die Eröffnung der Diskussion über eine generelle Reisefreiheit, Forderungen, die übrigens auch der UNO-Konvention zum Schutz der Wanderarbeiter gestellt werden. Ein würdiger Lebensstandard für alle wird am Besten durch eine konsequente Anwendung der Menschenrechte für alle und durch starke Gewerkschaftliche Bewegungen garantiert und nicht durch fremdenpolizeiliche Massnahmen.
In der zunehmend diskriminierten ausländischen Bevölkerung lässt sich die Bereitschaft, sich zu wehren beobachten. Die Frage der Rechte dieser Menschen lässt sich auch in der Schweiz nicht mehr unter den Tisch wischen. Lösungen sind nur mit neuen Denkansätzen möglich.