Ich arbeite seit rund sechs Jahren in verschiedenen NGOs zusammen mit Sans-papiers. Ich weiss, unter welcher Angst sie leben, wie sie zum grossen Teil wirtschaftlich und sexuell ausgenützt werden und sich dagegen nicht wehren können. Ich erlebe die Katastrophe von Krankheiten oder Schwangerschaften - Sans-papiers sind ja nicht krankenversichert. Ihre Situation ist nicht zu vergleichen mit derjenigen von AusländerInnen, die irgend einen - auch noch so prekären - Aufenthaltstitel haben. Sans-papiers können faktisch keine Menschenrechte in Anspruch nehmen.
Es gibt keine klaren Legalisierungskriterien in der Schweiz. Das neuliche Rundschreiben zur Einzelfallregelung für sogenannte Härtefälle sieht bloss komplexe und beliebig gewichtbare Beurteilungsaspekte vor. Im mehrstufigen Verfahren vom Kanton bis zum Bund fällt die grosse Mehrheit der Gesuche durch das Beurteilungsraster, wie beispielsweise in Basel, wo von anfänglich 60 Dossiers gerade 8 gut geheissen wurden und nun diese 8 noch von den Bundesbehörden einer Selektion unterzogen werden. Ich kann es nicht akzeptieren, dass die Bundesbehörden, die die Härtefallpraxis zu den Sans-papiers als unverrückbare Methode verteidigen, sich nie mit Sans-papiers oder den sie vetretenden NGOs zusammengesetzt haben, um einen Legalisierungsmodus zu erörtern, der den wirklichen Verhältnissen von Sans-papiers Rechnung trägt. In keinem anderen Land sind die Legalisierungsmethoden ohne Gespräche mit den zuständigen NGOs entwickelt worden. Es braucht in der Schweiz eine Einladung von einer Delegation des Europarats, damit sich die entsprechenden Akteure an einen Tisch setzen. Allerdings sind sie hier nicht vollzählig vertreten. Unser Vorschlag für einen Runden Tisch wurde von den Behörden und schliesslich auch vom Parlament abgelehnt.
Wenn ich das Gespräch mit Bundesbehörden suche, dann heisst es: Es ist so, wie wir es sehen, da gibt es nichts daran zu rütteln. So stehen wir heute vor einer Praxis, die Verzweiflung und Niedergeschlagenheit erntet - und natürlich auch Wut.
Agenda-Setting
Dass es auch in der Schweiz mindestens 100'000 Sans-papiers gibt, ist nicht nur den migrationspolitischen Organisationen, sondern auch den Behörden seit langem bekannt. Behörden und PolitikerInnen zeigen aber einen zähen Widerstand, das Thema ernsthaft aufzugreifen. Die informelle Billigstleistung von Sans-papiers ist ein zu bedeutender Wirtschaftsfaktor. Weil sie ihre Rechte nicht durchsetzen können, sind sie beliebig erpressbar - ideale ArbeitnehmerInnen punkto Flexibilität, Willigkeit und Genügsamkeit.
Erst mit der Selbstorganisation von Sans-papiers im letzten Jahr, ihrem öffentlichen Auftreten und den Kirchenbesetzungen wurde die Frage zum Politikum.
Legalisierung versus Kriminalisierung: Die Spaltung zwischen der französischen und deutschen Schweiz
Auffallend ist, dass die französische Schweiz die Sans-papiers-Frage viel positiver aufgenommen hat als die deutsche Schweiz. Die französischsprachigen Medien und Öffentlichkeit erachten die Sans-papiers-Frage als ein strukturelles Problem: Sans-papiers leisten einen unverzichtbaren wirtschaftlichen Beitrag, bilden aber die verletzlichste Bevölkerungsgruppe. Die Westschweizer Kantonsbehörden suchten mehrheitlich nach Lösungsmöglichkeiten.
Ganz anders verlief die Entwicklung in der deutschsprachigen Schweiz: Die Sans-papiers-Frage wurde nur sehr punktuell, bestenfalls als dramatisches Einzelschicksal, aufgegriffen und dann wieder fallengelassen. Die meisten Deutschschweizer PolitikerInnen und Kantonsbehörden stellten sich auf den Standpunkt, Sans-papiers seien in erster Linie Gesetzesbrecher, weil sie gegen das Ausländergesetz verstossen. Sie lehnen eine Legalisierung von Sans-papiers grundsätzlich ab - insbesondere in Kantonen, in welchen sehr viele Sans-papiers beschäftigt sind. So kommt es zu absurden Geschichten, dass einem Sans-papiers im einen Kanton gute Chancen auf eine Legalisierung attestiert werden und ihm im anderen Kanton eine massive Strafe wegen illegalem Aufenthalt auferlegt wird.
Aufgrund der deutschsprachigen Mehrheit in der Schweiz setzte sich schliesslich der Deutschschweizer Kurs in der Sans-papiers-Debatte durch. Angesprochen auf die Legalisierungsaktionen in anderen Ländern behaupteten deutschsprachige PolitikerInnen stets, dass das Ausland damit ausschliesslich schlechte Erfahrungen gemacht habe.
Das Verfassen von Eingaben und das anschliessende Beurteilungsverfahren sind ausserordentlich aufwändig
Nicht nur für die freiwilligen UnterstützerInnen von Sans-papiers, auch für die überprüfenden Behörden ist das Einzelfallverfahren ausserordentlich aufwendig, da alle Einzelheiten einer Sans-papiers-Biographie, ihre Integration in die Schweizer Gesellschaft und in den Arbeitsmarkt erforscht werden müssen. Mit dem heutigen Verfahren würde eine Legalisierung eines wesentlichen Teils der Sans-papiers ein Jahrhundert dauern.
Die Nachweise, die Sans-papiers erbringen müssten, sind zum grossen Teil nicht erbringbar, weil die Repression auf beteiligte Dritte massiv zugenommen hat. Die von den Sans-papiers kontaktierten langjährigen Bekannten, Arbeitgeber und Vermieter verweigern aus begründeter Angst vor Sanktionen den erforderlichen Nachweis für Sans-papiers. Den politisch produzierten Widerspruch haben Sans-papiers, wie immer, allein auszubaden.
Sans-papiers-Frauen
Gemäss meinen Erfahrungen gibt es mehr weibliche als männliche Sans-papiers in der Schweiz, doch sind sie im Rahmen der Sans-Bewegung seltener an die Öffentlichkeit getreten. Sans-papiers-Frauen arbeiten in der Regel in äusserst kümmerlich entlöhnten Frauenberufen. Sie arbeiten im Sexgewerbe und in Haushalten, betreuen Kinder und Betagte. Sie arbeiten hauptsächlich im Stundenlohn, ohne feste Arbeitsverhälnisse und kennen weder bezahlte Feiertage noch Ferien. Sans-papiers-Frauen ermöglichen zwar den einheimischen Frauen durch die Entlastung im Haushalt den Einstieg ins Berufsleben, da Familienarbeit immer noch Frauensache ist. Sie erfüllen aber die Voraussetzungen des Härtefall-Rundschreibens noch weniger als Männer, es sei denn, sie seien die Ehefrauen von Männern, die einen festen Arbeitsplatz nachweisen können.
Im Sinne von Art. 55 und Art. 69 der UNO-Konvention zum Schutz der Rechte der WanderarbeiterInnen muss nach einer politischen Lösung gesucht werden - in Zusammenarbeit mit den zuständigen NGOs. Und im Sinne dieser Konvention ist auf eine Gesetzgebung zu verzichten, die zusätzlich Sans-papiers hervorbringt. Eine verordnete Null-Einwanderung für Nicht-EU-Anghörige ohne Spezialisten- oder Kaderfunktion leistet der wirtschaftlich gefragten Einwanderung von erpressbaren Arbeitskräften Vorschub.
Anni Lanz
Sosf