Saure Äpfel aus dem Seeland
Siselen ist ein Dorf mitten im Seeland, dem Obst- und Gemüsegarten des Kantons Bern. Jesús Fernandez von der Bieler Sektion der Gewerkschaft Bau und Industrie führt uns zu einem Betonbau am Rande des Ortes. Der halbfertige Rohbau, der vielleicht einmal eine Garage hätte werden sollen, ist ein Treffpunkt für die portugiesischen Saisonniers.
Das "portugiesische Zentrum" steht in gehöriger Entfernung zu den anderen Häusern. In der Eingangshalle kann man sich am Flipper oder am Tischfussballkasten vergnügen. In der dahinter liegenden Bar ist am Samstag Nachmittag viel Betrieb. Die kahlen Wände des hohen Raums wirken wie ein Verstärker für die Diskussionen und das Kartenspiel. Der einzige Schmuck der Bar ist die grün-rote Fahne Portugals. Hierher verirrt sich nur selten ein Schweizer. Im Zentrum wird portugiesisch geredet. Obwohl sie vielfach schon lange Jahre in die Schweiz kommen, beherrschen die wenigsten Saisonniers die deutsche Sprache. Für die Arbeit reichen ein paar Brocken Schweizerdeutsch, ansonsten haben nur die wenigsten Kontakt mit Einheimischen. Dafür ist die Freizeit auch zu kurz bemessen. Gearbeitet wird an sechs Tagen die Woche.
Lionel D. ist das erste Mal in der Schweiz. Der junge Mann mit dem Bärtchen ist verheiratet und hat ein Kind "Eigentlich bin ich Mechaniker. Aber in meinem Beruf konnte ich nur kurz arbeiten, ein paar Monate nach dem Militärdienst." Letztes Jahr hat er in Spanien gearbeitet, aber auch dort wird es für Portugiesen schwierig Stellen zu finden, weil die spanischen Bauern auf billigere Sanspapiers aus Marokko zurückgreifen. "In Spanien habe ich ungefähr gleich verdient, aber dort hat man wenigstens mehr Freizeit gehabt und nicht so isoliert gelebt." Ins portugiesische Zentrum, den einzigen Anlaufpunkt, den Lionel und seine Leute in der Gegend haben, ist er in den letzten zwei Monaten nur am Wochenende gekommen. Unter der Woche sei an so etwas gar nicht zu denken gewesen. Da habe er jeden Morgen um halb sechs aufstehen müssen, während der Salaternte gar noch eine Stunde früher. Den Abend hat er fürs Kochen gebraucht. "Eine Stunde Pause am Mittag reicht gerade fürs Aufwärmen und Essen."
In den zwei Monaten bei Bauer Martin Jakob in Ins hat Lionel jeweils mehr als 50 Überstunden gemacht. Jetzt arbeitet dort nur noch ein Portugiese. Lionel und ein weiterer Kollege wurden Anfang Juni fristlos gekündigt. Für April hat ihm sein Chef 2’100 Franken ausbezahlt. Bei der Entlassung drückte er ihm noch 900 Franken in die Hand. Damit sollten sämtliche Leistungen abgegolten sein. Eine Lohnabrechnung hat der Arbeiter bisher nicht gesehen. Sein Chef wollte sich auf keine Diskussion mit ihm einlassen, drehte auf dem Absatz um und liess ihn stehen.
Stellenwechsel unmöglich
"Zulassungscode 1001 Saisonnier, Aufenthaltszweck Gemüsebauarbeiter, Aufenthaltsdauer ab sofort - 30.11.2001. Der Nachzug von familienangehörigen ohne ausdrückliche Bewilligung der Fremdenpolizei ist untersagt." So steht es auf der Zusicherung der Aufenthaltsbewilligung, die die Fremdenpolizei des Kantons Bern, der "Migrationsdienst", für Lionel José ausgestellt hat. Er ist einer von rund 250 PortugiesInnen, die dieses Jahr in der Landwirtschaft des Kantons als Saisonniers arbeiten. Der Aufenthalt - maximal neun Monate im Jahr - ist gebunden an den Arbeitsvertrag. Ein Wechsel der Stelle ist nicht möglich.
Arbeitszeit und Bezahlung regelt der Normalarbeitsvertrag für Betriebs- und Hausangestellte in der Landwirtschaft des Kantons Bern, der in diesem Jahr etwas besser ist als im letzten. "Das ist aber nur ein kleiner Fortschritt", erklärt fernandez. Die GBI ist von der Landwirtschaftlichen Organisation Bern und angrenzende Gebiete (LOBAG), dem Bauernverband der Region, nicht als Sozialpartnerin anerkannt, obwohl sie allein im Seeland rund 80 Landarbeiter, die Hälfte davon Saisonniers, vertritt. Die LOBAG verhandelt mit dem Verband landwirtschaftlicher Angestellter. "Die sind viel zu arbeitgeberfreundlich", erklärt der GBI-Sekretär, und ein Blick in den Vertrag bestätigt das: Normalarbeitszeit ist dieses Jahr 55 Stunden, letztes Jahr waren es noch 60. Der Bruttolohn liegt jetzt bei 2’700 Franken, 180 mehr als im Vorjahr. Um den gleichen Betrag - von 720 auf 900 Franken - ist aber die Summe gestiegen, die die Arbeitgeber für Kost und Logis abziehen dürfen. Real gab es also keine Lohnerhöhung. Zieht man auch die Sozialabgaben und die Quellensteuer ab, bleiben den Arbeitern häufig gerade noch 1’400 Franken. Das ist auch in Portugal nicht viel Geld. "Die Arbeit in der Schweiz rentiert sich für die Leute nur, weil sie so gut wie nichts ausgeben können", erklärt Fernandez. Die Arbeitszeiten sind zu lange und die Dörfer sind - wenn man auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen ist - zu abgelegen.
Uralte Betten und Schmutzige Matratzen
Warum Lionel so plötzlich seine Stelle verlor, weiss er nicht. Die Kündigung ist eindeutig missbräuchlich, sagt GBI-Sekretär Fernandez. Die GBI verlangt von Bauer Jakob nicht nur eine ordentliche Lohnabrechnung, sondern auch die "volle Entschädigung für die Dauer des Arbeitsvertrages", der am 30. November geendet hätte, sowie "eine zusätzliche Entschädigung in der Höhe von drei Monatslöhnen". Die Gewerkschaft bemängelt auch die "ganz schlechten Wohnbedingungen (...), für die sie aber einen der Einrichtung nicht entsprechenden Abzug gemacht haben."
Einige Tage nach der Kündigung des Arbeitsverhältnisses hat der Bauer Lionel auch aus dem Stöckli rausgeworfen, wo er bis dahin mit seinen zwei Kollegen untergebracht war. In dem Zimmer der beiden Rausgeworfenen stehen zwei Uraltbetten mit schmutzigen Matratzen und ebenso uralten Wolldecken - wahrscheinlich aus Armeebeständen. Dazwischen bleibt vielleicht noch ein halber Meter Platz. Der Spanplattenschrank reicht beim besten Willen nicht für die Sachen von zwei Personen. Als Aufenthaltsraum blieb den dreien nur die Küche, in der sie auch ihr Essen kochen mussten. Denn Bauer Jakob war nur "für die Unterkunft besorgt", wie es im Arbeitsvertrag heisst. Von den ca. 300 Franken, die er dabei pro Person zurückgehalten hat, hätten sich die drei Arbeiter eine ordentliche Drei-Zimmer-Wohnung mieten können.
Zu den Vorwürfen der GBI will uns der Bauer nichts sagen, solange die Angelegenheit noch nicht geklärt sei. "Darauf reagiere ich gar nicht. Dafür habe ich ein anderes Büro". Ein Vertreter des anderen Büros, der LOBAG, hat für nächste Woche einen Termin mit dem Gewerkschaftssekretär vereinbart. "Wir wollen die Sache ernsthaft angehen und die Fakten auf den Tisch legen", beteuert Walter Heimberg, der bei der LOBAG für die Stellenvermittlung zuständig ist. Wahrscheinlich einige man sich auf einen Vergleich. "Arbeitsrechtliche Konflikte kommen eher selten vor." Der GBI-Sekretär korrigiert: Missbräuche wie fehlende Abrechnungen und unbezahlte Überstunden seien an der Tagesordnung. "Nur in wenigen Fällen kommt es aber zu einem arbeitsrechtlichen Konflikt."
Der gute Arbeitgeber
Auch Manuel R. arbeitet rund 65 Stunden in der Woche, zehn mehr als im Vertrag vorgesehen. Trotzdem ist er zufrieden mit seinem diesjährigen Arbeitgeber: "Eine gute Familie." Er ist der einzige Saisonnier auf dem Hof, kann bei der Familie mit am Tisch essen, er macht genausoviel Pausen wie der Chef. Wenn er Ware für den Bauern ausliefert, kann er das Trinkgeld, das er für die Hilfe beim Ausladen bekommt, behalten. Seit 1990 kommt er jedes Jahr acht bis neun Monate in die Schweiz zum Arbeiten. Die Arbeitgeber waren immer wieder andere. Der vom letzten Jahr sei "verrückt" gewesen und habe ihn nach Strich und Faden ausgenutzt. 1400 Franken pro Monat - netto, nach Abzug von Kost und Logis - hat er bei dem "Verrückten" verdient, bei seinem guten Arbeitgeber erhält er heuer 200 mehr. Hier würde er bleiben. Manuel hat es auch sonst besser als die meisten seiner Kollegen. Während die anderen ihre Familie erst im November wiedersehen, wenn sie nach Portugal zurückkehren, hat er seine Freundin ganz in der Nähe. Sie ist dieses Jahr mitgekommen in die Schweiz und arbeitet bei einem anderen Bauern. Manuels Chef "akzeptiert", dass sie bei ihm übernachtet. Manuel ist dafür bereit, mehr zu arbeiten als eigentlich vorgesehen. Der Chef habe ja schliesslich bei zwei Personen mehr Auslagen für Wasser und Elektrizität als nur bei einer.
Bulgaren und Marokkaner
Zurück zu Bauer Jakob, der jetzt statt drei nur noch einen Arbeiter hat. Wie will er jetzt die Arbeiten auf dem Hof bewältigen? Lionel erklärt, ihm gegenüber habe er gesagt, dass er sich in Zukunft Arbeiter aus Bulgarien oder Marokko holen will. Vielleicht verfällt er auch auf die Idee seines Kollegen Peter Schwab, der nicht nur etwa dreissig portugiesische Saisonniers, sondern auch noch 45 "Praktikanten" aus Polen für die Ernte "seiner" Erdbeeren beschäftigt.
Die Praktikanten unterliegen im Gegensatz zu den Saisonniers nicht der Kontingentierung. Sie dürfen mit einer auf höchstens vier Monate befristeten Aufenthaltserlaubnis einreisen. Sie seien oft noch schlechter bezahlt als die Saisonniers, sagt Jesús fernandez. LOBAG-Sekretär Walter Heimberg sieht das anders: "Das Praktikum ist ein integrierter Bestandteil der Ausbildung", die Landwirtschaftsstudenten oder -lehrlinge im Heimatland absolvieren. Mit jedem Praktikanten werde ein Ausbildungsprogramm erarbeitet. Was aber lernt ein Praktikant?, fragen wir Anton Bolliger vom Kantonalen Amt für Industrie, Gewerbe und Arbeit (KIGA). "Zum Beispiel die Beachtung von Hygienevorschriften oder auch: Auf was muss ich in der Praxis achten, damit die Früchte auf den Markt gelangen und nicht zwischendrin verderben?" Eigentlich sei das eine "Tätigkeit unter Anleitung - 15 bis 20 Prozent Anleitung und 75 bis 80 Prozent Arbeit."
Erdbeerproduzent Schwab hatte sich anfangs zu einem Gespräch mit der Wochenzeitung bereit erklärt, dann aber festgestellt, dass die WoZ nicht mit der Wochenzeitung im Emmental, einem lokalen Gratisblatt, identisch ist. "Ihre Zeitung will ja nur die Wirtschaft fertig machen," begründet er am Telefon seine Absage. Statt mit uns hat er mit dem "Blick" geredet, aber selbst dieses Gespräch ist wohl nicht nach seinem Gusto verlaufen. "Süss sind nur die Früchte - die Bauern zahlen miese Löhne", schreibt das Boulevard-Blatt und hat diesmal vollkommen recht.
Zu wenig Nord-Süd-Gefälle
Seitdem der Bundesrat 1991 mit seiner Drei-Kreise-Politik begonnen hat, dürfen auch Saisonniers nur noch in der EU angeworben werden. Jugoslawien, bis zu diesem Zeitpunkt das klassische Reservoir für Billiglohnarbeiter, fiel auch nach der Reduktion der drei auf zwei Kreise in den äusseren Zirkel und ist seitdem als Rekrutierungsland tabu. Die Schweizer Bauern haben zunehmend Schwierigkeiten, sich unter diesen Bedingungen Arbeitskräfte aus dem EU-Raum zu besorgen. "Der Nord-Süd-Ausgleich in der EU hat dazu geführt, dass nur noch Portugiesen auf solche Stellen angewiesen sind", bestätigt auch Anton Bolliger vom KIGA. Einen Bedarf von 500 Stellen hatte die "Landwirtschaftliche Organisation Bern und angrenzende Gebiete" (LOBAG), der Bauernverband der Region, Anfang des Jahres ausgemacht. Etwa 340 hat das KIGA bewilligt - neben den portugiesischen Saisonniers sind das die meist polnischen PraktikantInnen. "Es ist noch unklar, ob wir vielleicht noch weitere Stellen bewilligen. Der Bedarf an Arbeitskräften besteht," erklärt Bolliger. Mit Zuständen wie in der Waadt, wo der Tabakbauer und SVP-Nationalrat Jean Fattebert offen dazu aufruft, ausländische Arbeiter illegal anzustellen, rechnet er nicht. Allerdings werden auch dem Berner KIGA jährlich 10-15 Fälle von Schwarzanstellungen bekannt. Letzten Samstag haben die Gewerkschaften in einem offenen Brief an Bundesrätin Ruth Metzler verlangt, dass der Bund den Sans-papiers eine Aufenthaltsbewilligung erteilt, anstatt im Ausland billige Arbeitskräfte zu rekrutieren.
(aus: WoZ Nr. 25, 21. Juni 2001)